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183Vertiefung – Mit Material arbeiten M7 Warum 1919 Versailles? Der französische Außenminister Stephen Pichon rechtfertigt am 31. Oktober 1918 die Wahl von Versailles als Tagungsort mit den Worten: Auf unserem Territorium, in Versailles, vor den Toren unserer Hauptstadt, hat Deutschland den Grundstein für seine Weltherrschaft gelegt, die es durch die Vernichtung der Freiheit der Völker ausbaute. Solle sich nicht dort, gleichsam als Sinnbild des Triumphes der Gerechtigkeit, der Kongress versammeln, dessen wichtigster Grundsatz das freie Recht der Völker auf Selbstbestimmung sein wird? Raymond Poincaré, der französische Präsi dent, sagt bei der Eröffnung der Friedens konferenz am 18. Januar 1919: Vor 48 Jahren, genau auf den Tag, am 18. Januar 1871, wurde das Deutsche Reich von einer Invasionsarmee im Schloss von Versailles ausgerufen. Es empfing seine erste Weihe durch den Raub zweier franz. Provinzen. Es war somit befleckt schon in seinem Ursprung und durch den Fehler seiner Gründer trug es in sich den Todeskeim. In Ungerechtigkeit geboren, hat es in Schmach geendet. Sie sind versammelt, um das Übel gutzumachen, das es angerichtet hat, und um seine Wiederkehr zu ver hüten. Sie halten in Ihren Händen die Zukunft der Welt. Jean-Claude Allain, Das Schloss von Versailles, in: Horst Möller/Jacques Morizet (Hrsg.), Franzosen und Deutsche. Orte der gemeinsamen Geschichte, München 1996, S. 65 und 74 M10 Die Unterzeichnung des Friedens vertrages im Spiegelsaal des Schlosses zu Versailles am 28. Juni 1919. Ölgemälde (152 x 127 cm) von William Orpen, 1919. 5 10 15 20 25 M8 „Wozu noch das Leben?“ Am 7. Mai 1919 wird der Entwurf des Friedensvertrages bekannt. Der jüdische Fabrikant Oskar Münsterberg aus Berlin reagiert am 8. Mai auf die Presseberichte und schreibt in sein Tagebuch: Heute ist der schwärzeste Tag des Krieges, die Friedensbedingungen von Versailles! Alle Lebenslust versagt, das Herz stockt. Das „vae victis“* in grausamster, brutalster Gestalt verkünden5 10 15 20 25 30 M9 Gab es eine Alternative? In seinen Erinnerungen erörtert Matthias Erzberger (Zentrum), der am 11. November 1918 den Waffenstillstand von Compiègne unterzeichnet hat und dafür 1921 ermordet worden ist, die Frage, was passiert, wenn der Versailler Vertrag unterzeichnet wird. Er kommt zu folgender Einschätzung: Der Kriegszustand hört auf. Die Blo ckade wird beseitigt. Die Grenzen öffnen sich, es kommen wieder Lebensmittel und Rohstoffe ins Land, der deutsche Kaufmann kann auf Privatkredit Waren kaufen. Der Export kann wieder beginnen. Die Kriegsgefangenen kommen in die Heimat zurück. […] Die Einheit des Reiches bleibt bestehen. Matthias Erzberger, Erlebnisse im Weltkrieg, Stuttgart–Berlin 1920, S. 371 5 5Lesetipps: • Jean-Claude Allain, Das Schloss von Versailles, in: Horst Möller/Jacques Morizet (Hrsg.), Franzosen und Deutsche. Orte der gemeinsamen Geschichte, München 1996, S. 59-77 • Gerd Krumeich (Hrsg.), Versailles 1919. Ziele – Wirkung – Wahrnehmung, Essen 2001 • Hagen Schulze, Versailles, in: Etienne François/Hagen Schulze (Hrsg.), Deutsche Erinnerungsorte. Eine Auswahl, München 2005, S. 214-228 die siegreichen Feinde. Noch erscheint es unfassbar, dass ein solcher Frieden Wirklichkeit werden soll. Unmöglich! Aber was dann? […] Es scheint, als ob ein Entrinnen vor dem Zusammenbruch unmöglich ist – mit dem Frieden durch die Feinde, ohne Frieden durch den Bolschewismus. […] Wo sind die schönen Reden von Humanität und Recht! Wo sind die Wilsonpunkte**, nach deren Anerkennung vom Feind und von uns der Waffenstillstand geschlossen wurde! Soll alles Betrug gewesen sein? Soll jedes Recht und jeder Glaube schwinden? […] Nein, das kann noch nicht das Ende des militärisch im Felde unbesiegten Staates sein! Der Bogen ist überspannt, aber woher kommt die Rettung? Welche Wirkung würde die Ablehnung erzielen? Neue Revolution bei uns oder bei den Anderen. Nirgends scheint ein Lichtstrahl, nur schwarze Wolken! Wozu noch das Leben? http://www.dhm.de/lemo/forum/kollektives_ gedaechtnis/035/index.html (Zugriff: 20. März 2005) **Siehe M 1, Seite 172. *Vae victis: „Wehe den Besiegten!“ Der Spruch stammt von dem römischen Historiker Livius. 4453_176_187 06.06.14 11:31 Seite 183 Nu r z u Pr üf zw ck en Ei ge nt um d es C .C . B uc hn r V er la gs | |
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