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227Umgang mit Texten und Medien Übergänge Nur ein Streifen Silberpapier, weiter nichts.Aber das Mädchen mit dem Diamanten im Nasenflügel hatte ihn be rührt, und er roch immer noch nach Pfefferminze wie ihr Atem.Tauber faltete ihn auseinander, bis er ein glänzendes Rechteck ergab, voller knittriger Linien. Sein Zeigefinger zitterte über die Silberbeschichtung, als versuche er, die geheime Botschaft der Linien zu entschlüsseln.Vorsichtig schob er das Papier in die Tasche seines grauen Regenmantels. Seine Augen glitten über den vertrauten Heimweg, ohne sich irgendwo festzuhalten.Was er sah, lag Minuten zurück: Das Mädchen wickelt das Kaugummi aus, wirft das Papier achtlos auf den Bahnsteig, während sie den weichen Streifen in den Mund schiebt. Sie umfasst den Hals des hochgewachsenen, blonden Jungen, bedeckt mit ihren schlanken Händen die kleine Narbe an seinem Nacken. Sie sehen sich in die Augen, versunken in ihrer eigenen Welt, während ihr Kiefer mechanisch vor und zurück mahlt. Sie küssen sich, kurz erst und spielerisch, wie zur Probe; dann noch einmal, sehr lange. Sie holt Luft, lächelt, während er wie benommen dasteht, ein wenig verwirrt und überaus glücklich. Und dann kaut er, kaut ihr Kaugummi, während sie ihm lachend zuwinkt und in der S-Bahn verschwindet. Tauber schloss dieTür der kleinenWohnung auf, holte das Silberpapier aus der Manteltasche und glättete es mit Daumen und Zeigefinger.Auf dem dritten Regalboden von unten, zwischen dem Schnuller und dem roten Spielzeugauto, fand er einen geeigneten Platz. Das rote Spielzeugauto. Ganz vertieft hatte der kleine Junge damit gespielt, in der Sandkiste auf dem Spielplatz derWohnsiedlung.Tauber hatte ihn von seinem Fenster aus beobachtet. Selbst auf diese Entfernung hatte er dasVibrieren der Lippen zu erkennen geglaubt,wenn der Junge „Brumm,brumm!“ machte.Dann war der Mann mit dem Bart gekommen.Der Junge hatte aufgeblickt. Einen Moment hatte er geblinzelt, verwirrt, verunsichert. Er war aufgesprungen, auf den Mann zugelaufen, hatte seine Oberschenkel umarmt – höher reichte er nicht hinauf –, und der Mann hatte ihn hochgehoben und gedrückt und in die Luft geworfen und wieder ge drückt. Sie waren gegangen, und das rote Spielzeugauto war zurückgeblieben. Tauber wärmte sich an der Erinnerung wie an einem Kohleofen im Winter, und es tat weh, wie Wärme eiskalten Händen wehtut. In der Nacht lag er lange wach, sah immer wieder das junge Paar auf dem Bahnsteig, empfand die Wärme und Fröhlichkeit und Traurigkeit dieses magischen Augenblicks. Wenn er nicht aufpasste, stahlen sich Bilder dazwischen von roten Lippen und lachenden Augen und kleinen Händen. Bilder, die auf seiner Seele brannten wie Alkohol auf offenem Fleisch. In dieser Nacht hatte er einen beunruhigenden Traum. Das Kaugummipapier spiegelte sein graues Gesicht, verschwommen und zerknittert. Nach einer Weile löste sich das Spiegelbild auf, verschwand einfach, und mit ihm die Hand, die das Papier hielt. Es schaukelte zu Boden wie ein Herbstblatt, Karl Olsberg Taubers Sammlung 5 10 15 20 25 30 35 40 2 Aufgaben: Seite 233 N u r zu P rü fz w e c k e n E ig e tu m e s C .C . B u c h n r V e rl a g s | |
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