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37Umgang mit Texten und Medien Autoren in ihrer Zeit 45 50 55 60 65 70 75 80 nen Stimmchen: „Dreimarkfinfzig das Stick.“ „Jedes?“ „Ja“, nickte sie. Der Schnee fiel auf ihr feines, blondes Haar und puderte sie mit flüchtigem, silbernem Staub, ihr Lächeln war einfach entzückend. Die düstere Straße hinter ihr war ganz leer, und die Welt schien tot. Ich nahm einen Hefekringel und kostete ihn. Das Zeug schmeckte prachtvoll, es war Marzipan darin. „Aha“, dachte ich, „deshalb sind die auch so teuer wie die anderen.“ Das Mädchen lächelte. „Gut?“, fragte sie, „gut?“ Ich nickte nur: Mir machte die Kälte nichts, ich hatte einen dicken Kopfverband und sah aus wie Theodor Körner1. Ich probierte noch eine Buttercremeschnitte und ließ das prachtvolle Zeug langsam im Munde zerschmelzen. „Komm“, sagte ich leise, „ich nehme alles, wie viel hast du?“ Sie fing vorsichtig mit einem zarten, kleinen, ein bisschen schmutzigen Zeigefinger an zu zählen, während ich eine Nussecke verschluckte. Es war sehr still, und es schien mir fast, als wäre ein leises sanftes Weben in der Luft von den Schneeflocken. Sie zählte sehr langsam, verzählte sich ein paarmal, und ich stand ganz ruhig dabei und aß noch zwei Stücke. Dann hob sie ihre Augen plötzlich zu mir, so erschreckend senkrecht, dass ihre Pupillen ganz nach oben standen, und das Weiße in den Augen war so dünnblau wie Magermilch. Irgendetwas zwitscherte sie mir auf Russisch zu, aber ich zuckte lächelnd die Schultern, und dann bückte sie sich und schrieb mit ihren schmutzigen Fingerchen eine 45 in den Schnee; ich zählte meine fünf dazu und sagte: „Gib mir auch den Korb, ja?“ Sie nickte und gab mir den Korb vorsichtig durch das Loch, ich reichte zwei Hundertmarkscheine hinaus. Geld hatten wir satt, für einen Mantel bezahlten die Russen siebenhundert Mark, und wir hatten drei Monate nichts gesehen als Dreck und Blut, ein paar Huren und Geld. „Komm morgen wieder, ja?“, sagte ich leise, aber sie hörte nicht mehr auf mich, ganz flink war sie weggehuscht, und als ich traurig meinen Kopf durch die Mauerlücke steckte, war sie schon verschwunden, und ich sah nur die stille russische Straße, düster und vollkommen leer, die flachdachigen Häuser schienen langsam von Schnee zugedeckt zu werden. Lange stand ich so da wie ein Tier, das mit traurigen Augen durch die Hürde hinausblickt, und erst als ich spürte, dass mein Hals steif wurde, nahm ich den Kopf ins Gefängnis zurück. Und jetzt erst roch ich, dass es da in der Ecke abscheulich stank, und die hübschen, kleinen Kuchen waren alle mit einem zarten Zuckerguss von Schnee bedeckt. Ich nahm müde den Korb und ging aufs Haus zu, mir war nicht kalt, ich sah ja aus wie Theodor Körner und hätte noch eine Stunde im Schnee stehen können. Ich ging, weil ich doch irgendwohin gehen musste. Man muss doch irgendwohin gehen, das muss man doch. Man kann ja nicht stehen bleiben und sich zuschneien lassen. Irgendwohin muss man gehen, auch wenn man verwundet ist in einem fremden, schwarzen, sehr dunklen Land ... 1 Zu Theodor Körner siehe Seite 42 N u r z P rü fz w e c k e n E ig e tu m d e s C .C . B u c h n e r V e rl a g s | |
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