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M3 Die Revolution – eine verpasste Chance? Der Historiker Heinrich August Winkler beschäftigt sich mit der Bedeutung der Revolution von 1918/19: Manche Historiker meinen, dass die erste deutsche Demokratie vielleicht nicht untergegangen und dann auch Hitler nicht an die Macht gekommen wäre, hätte es damals einen gründlichen Bruch mit der obrigkeitsstaatlichen Vergangenheit gegeben. Tatsächlich war der Handlungsspielraum der regierenden Mehrheitssozialdemokraten […] in den entscheidenden Wochen zwischen dem Sturz der Monarchie am 9. November 1918 und der Wahl der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung am 19. Januar 1919 größer, als die Akteure mit Friedrich Ebert, dem Vorsitzenden des Rates der Volksbeauftragten, an der Spitze selbst meinten. Sie hätten weniger bewahren müssen und mehr verändern können. Es wäre, mit anderen Worten, möglich gewesen, in der revolutionären Übergangszeit erste Schritte zu tun auf dem Weg zu einer Demokratisierung der Verwaltung, der Schaffung eines republikloyalen Militärwesens, der öffentlichen Kon trolle der Macht […]. Deutschland kannte zwar bis zum Oktober 1918 kein parlamentarisches Regierungssys tem, aber seit rund einem halben Jahrhundert das allgemeine, gleiche und direkte Reichstagswahlrecht für Männer, das Bismarck 1866 im Norddeutschen Bund und 1871 im Deutschen Reich eingeführt hatte. Das Kaiserreich lässt sich daher nicht einfach als „Obrigkeitsstaat“ beschreiben. Deutschland war um 1918 bereits zu demokratisch, um sich eine revolutionäre Erziehungsdiktatur […] aufzwingen zu lassen. Deutschland war auch zu industrialisiert für einen völligen Umsturz der gesellschaftlichen Verhältnisse. […] Beide Faktoren, der Grad der Demokratisierung und der Grad der Industrialisierung, wirkten objektiv revolutionshemmend. Heinrich August Winkler, Weimar: Ein deutsches Menetekel, in: Ders. (Hrsg.), Weimar. Ein Lesebuch zur deutschen Geschichte 1918 1933, München 1997, S. 15 ff. 1. Die Revolution von 1918/19 wird oft als „steckengebliebene“ oder „gebremste“ Revolution bezeichnet. Erläutern Sie mithilfe des Textes, ob diese Aussagen zutreffend sind. 2. Beurteilen Sie die Kritik Winklers am Handeln Eberts, und diskutieren Sie über Möglichkeiten und Grenzen des Rates der Volksbeauftragten, das politische Geschehen in der revolutionären Phase bis Weihnachten 1918 zu beeinfl ussen. M4 Deutschlands Zukunft Theodor Heuss (1884 1963), der erste Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland, bewirbt sich am 17. Januar 1919 um einen Platz auf der württembergischen Liste der linksliberalen DDP. In seiner Rede formuliert er Kriterien für die neu zu entwerfende Verfassung: Der Gewaltenaufbau im neuen Reich wird demokratisch sein. England zeigt, dass dies nicht ohne Weiteres die Monarchie ausschließt. Aber wenn der Krieg die große Feuerprobe der Geschichte ist, dann wurde sie von der deutschen Monarchie nicht bestanden. [...] Wenn die Demokratie nun den Staat aus den Trümmern gestürzter Autoritäten wieder aufrichten soll, was ist dann ihre erste Aufgabe? Neue Autoritäten zu schaffen. Das ist das Ziel der Verfassungsarbeiten, und es scheint Gefahr in Verzug, dass unter der Suggestion erregten Massenwillens der Gewaltenaufbau nicht straff genug gesichert werde. Wollen wir zur Ordnung und staatlichen Gestaltung der öffentlichen Kräfte uns zurückoder vorwärtsarbeiten, dann kann kein Problem so ernsthaft angefasst werden wie das des Führertums in der Demokratie. Demokratie heißt nicht Massenherrschaft, sondern Aufbau, Sicherung, Bewahrung der selbstgewählten Autoritäten. Man mag noch so demokratisch denken, die politische Exekutive, die Gesetzgebung und die Verwaltung müssen so verankert werden, dass sie persönlicher Verantwortung und Leistungsfreude Lockung bleiben. [...] Die Parteien in Deutschland sind zum Regieren nicht erzogen worden – die Größe Bismarcks warf auf ihr Leben Schatten genug – heute sind sie, auch in ihrer Vollkommenheit und Schwerfälligkeit, die Klammern des Staatslebens [...]. Unfähigkeit oder mittlere Begabung soll nicht durch Tüchtigkeit einer Parteigesinnung zu Amt und Macht steigen. Die Revolutionserfahrungen sind teilweise recht ernüchternd oder beängstigend gewesen. Legen wir nicht hier durch ein freies Beamtenrecht und starke Sicherungen bürgerlicher Freiheit gegenüber der Staatsgewalt Riegel vor, so verderben wir das Beste, was der deutsche „Obrigkeitsstaat“ seinem Nachfolger als Erbe zu übergeben hat. Theodor Heuss, Die großen Reden, Tübingen 1965, S. 27 ff. © Rainer Wunderlich Verlag, mit freundlicher Genehmigung der Deutschen Verlags-Anstalt 1. Erläutern Sie, wie Heuss die Rolle von Parteien und Autoritäten sieht. 2. Prüfen Sie, ob die von Heuss genannten Kriterien auch nach aktuellen Wertmaßstäben noch Gültigkeit beanspruchen können. 5 10 15 20 25 30 5 10 15 20 25 30 49Vom Obrigkeitsstaat zur Republik Nu r z u Pr üf zw e ke n Ei ge nt um d s C .C .B uc hn er V er la gs | |
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