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M1 Erinnerungen an die Weimarer Kultur Der 1921 in Breslau geborene Historiker Walter Laqueur schreibt über die Verwurzelung der Hochkultur in der Bevölkerung: [Im] Großen und Ganzen war alles, was die Menschen mit „Weimarer“ Kultur und Denken assoziieren, in Berlin konzentriert. Das zeigt, wie einfach es ist, einige vielfach beschriebene oder besonders reizvolle Aspekte einer Gesellschaft herauszugreifen und das Phänomen einer Minderheit als den wichtigsten und sogar prägenden Aspekt jener Zeit darzustellen. Das Leben in Breslau, damals eine Stadt mit etwa 600 000 Einwohnern, ging im Wesentlichen weiter wie zuvor. Es gab beachtliche Theateraufführungen und Konzerte, aber die Stadt war nicht die Wiege der Moderne. Im Grunde galt das auch für das übrige Deutschland. Alles war noch sehr provinziell, im guten wie im schlechten Sinne. Reisen ins Ausland, um nur ein Beispiel zu nennen, waren die absolute Ausnahme. Das Gesellschaftsleben, die Umgangsformen und Sitten waren seit den Tagen der Monarchie ein wenig freizügiger geworden, aber es hatte weder eine kulturelle noch eine gesellschaftliche Umwälzung gegeben, sondern lediglich graduelle Veränderungen auf wenigen Gebieten. Weimar war sowohl auf politischer als auch auf kultureller Ebene ein elitäres Phänomen, das nie Wurzeln in der Bevölkerung schlug. Zugleich machte sich seine politische Elite all jene zum Feind, die immer noch der guten alten Zeit nachtrauerten. Die Republik war eine Demokratie mit wenigen Demokraten und einer wachsenden Zahl an Extremisten. Das galt auch auf kultureller Ebene. Merkwürdigerweise waren viele, die der Avantgarde von Weimar angehörten, sich dessen gar nicht bewusst oder wollten in späteren Jahren vergessen, wie isoliert sie gewesen waren. Ich erinnere mich an eine Konferenz über die Weimarer Kultur an der New School in New York um 1970. Ich hielt einen Vortrag über die Bestseller im Deutschland der 1920er-Jahre. Hannah Arendt1 nahm an der Konferenz teil und erklärte verächtlich: „Wir haben diese Bücher nie gelesen, nicht einmal von ihnen gehört.“ Das war absolut richtig, aber als ich mich erkundigte, wen sie denn mit „wir“ meinte, stellte sich heraus, dass sie sich auf einen Kreis von Intellektuellen bezog, der sich in Kaffeehäusern am und um den Kurfürstendamm getroffen hatte und überwiegend aus Linken und Juden bestand. An dieser Haltung der kulturellen Elite eines Landes hat sich mit Sicherheit wenig geändert. Sie ist auch in den Vereinigten Staaten sowohl auf politischer als auch auf kultureller Ebene weit verbreitet. Tatsächlich ist diese Überheblichkeit in der ganzen westlichen Kultur eher der Standard. In den meisten Fällen zeitigt dies überwiegend amüsante oder allenfalls ärgerliche Resultate. In Deutschland waren es tragische. Das deutsche Lesepublikum wurde von einer völlig anderen Art von Literatur in den Bann gezogen, teils apolitisch, teils patriotisch, in der traditionelle Werte wie der deutsche Heldenmut im Ersten Weltkrieg gepriesen wurden. Was wir heute „Weimarer Kultur“ nennen, war in Wirklichkeit nur ein Teil der Szene und überwiegend nicht einmal der dominierende Trend. Der Modernismus und die neue Freiheit lockten einige junge Engländer nach Berlin, darunter die Autoren W. H. Auden, Stephen Spender und Christopher Isherwood, sowie einige Franzosen. Auch ein paar Amerikaner kamen, wie der Physiker Robert Oppenheimer, der nach Göttingen ging, dem damaligen Mekka der Physiker und Mathematiker. Walter Laqueur, Mein 20. Jahrhundert. Stationen eines politischen Lebens, Berlin 2009, S. 21 22 und 24 1. Erläutern Sie, was Laqueur mit „Überheblichkeit in der ganzen westlichen Kultur“ meint. 2. Nehmen Sie Stellung dazu, inwiefern diese Überheblichkeit (mit)verantwortlich ist für die „tragischen Resultate“. 3. Prüfen Sie die These Laqueurs zur Isolation der „Avantgarde“ anhand von Werkbeispielen, die Sie kennen. 4. Diskutieren Sie, ob sich am Verhältnis zwischen „elitärer“ Kultur und Massenkultur in der Gegenwart etwas geändert hat. 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 i Großstadtverkehr am Potsdamer Platz in Berlin. Foto um 1930. 1 Hannah Arendt (1906 1975): deutsch-amerikanische Philosophin 75Gesellschaft zwischen Revolution und Tradition Nu zu P rü fzw ck en Ei g nt um d e C .C .B uc hn er V er la gs | |
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