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Mit Material arbeitenAusblick – Die Krise, die 1914 zum Ersten Weltkrieg führte, zählt zu den komplexesten Ereignissen der Moderne. Seit Jahrzehnten suchen Historiker nach Antworten auf die Frage nach der Verantwortung für den Ausbruch des Krieges. Die Diskussion führte in den 1960er-Jahren zu heftigen Auseinandersetzungen. Anlässlich des 100. Jahrestages des Kriegsausbruchs wurde die weltweite Debatte fortgesetzt. Wer trägt die Verantwortung am Kriegsausbruch? 5 10 15 20 25 30 35 40 45 M 1 Fünf Antworten a) 1951 erklären einige deutsche und französische Historiker: Die Dokumente erlauben es nicht, im Jahre 1914 irgendeiner Regierung oder einem Volk den bewussten Willen zu einem europäischen Krieg zuzuschreiben. […] Die deutsche Politik zielte 1914 nicht auf die Entfesselung eines europäischen Krieges; sie war in erster Linie bedingt durch die Bündnisverpfl ichtung gegenüber Österreich-Ungarn. b) Der Hamburger Professor Fritz Fischer (1908 1999) fasst seine Forschungen 1965 so zusammen: Ich selbst habe noch auf dem Historikertag in Berlin im Oktober 1964 die Ansicht vertreten, Deutschland habe im Juli 1914 bewusst das Risiko eines großen europäischen Krieges auf sich genommen, weil ihm die Situation so günstig wie nie zuvor schien. In Verschärfung meiner damaligen Ausführungen stelle ich heute fest, gestützt auf allgemein zugängliches wie auch auf unveröffentlichtes Material: Deutschland hat im Juli 1914 nicht nur das Risiko eines eventuell über den österreichisch-serbischen Krieg ausbrechenden großen Krieges bejaht, sondern die deutsche Reichsleitung hat diesen großen Krieg gewollt, dementsprechend vorbereitet und herbeigeführt. c) Der Australier Christopher Clark, geboren 1960, lehrt Neuere Europäische Geschichte an der Universität Cambridge/England. In seinem 2013 in Deutschland veröffentlichten Buch „Die Schlafwandler“ schreibt er: [Der] Kriegsausbruch [war] eine Tragödie, kein Verbrechen. Wenn man dies anerkennt, so heißt es keineswegs, dass wir die kriegerische und imperialistische Paranoia* der österreichischen und deutschen Politiker kleinreden sollten, die zu Recht die Aufmerksamkeit Fritz Fischers und seiner historischen Schule auf sich zog. Aber die Deutschen waren nicht die einzigen Imperialisten, geschweige denn die einzigen, die unter einer Art Paranoia litten. Die Krise, die im Jahr 1914 zum Krieg führte, war die Frucht einer gemeinsamen politischen Kultur. * Paranoia: Wahnvorstellung d) Der Historiker Gerd Krumeich, geboren 1945, hat 2014 in einer Einführung zum Ersten Weltkrieg festgehalten: Keine der Großmächte wollte also 1914 um jeden Preis den Frieden bewahren, der Krieg galt noch als „Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“. Aber die Hauptverantwortung für die Eskalation des Konfl iktes mit ihrer ambitiösen Droh-, Bluffund Erpressungspolitik trugen Kaiser Wilhelm II., sein Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg und die auf den Krieg drängenden Militärs um General Helmuth von Moltke. e) Die 1967 geborene Historikerin Annika Mombauer arbeitet seit 1998 an der Open University in Milton Keynes/England. Sie fasst 2014 ihre Auffassung zur Kriegsschuldfrage so zusammen: Der Krieg war kein „Unfall“, er war nicht das Resultat von Fehlern oder Versäumnissen, und die Verantwortlichen von 1914 waren keine „Schlafwandler“ (Christopher Clark), sondern sie wussten im Gegenteil ganz genau, was sie taten. Der Krieg brach aus, weil einfl ussreiche Kreise in Wien und Berlin ihn herbeiführen wollten und ihn absichtlich riskierten und weil man in Paris und Petersburg bereit war, diesen Krieg zu führen, wenn er denn käme. Gewiss, es gab auch in Paris und Petersburg und zu einem viel geringeren Teil sogar in London im Juli 1914 Befürworter des Krieges, vor allem unter den Militärs. Aber die Entscheidung, im Sommer 1914 einen Krieg zu führen, war in Wien und Berlin getroffen worden. a) Zit. nach: Karl Dietrich Erdmann, Die Zeit der Weltkriege, in: Bruno Gebhardt, Handbuch der deutschen Geschichte, hrsg. von Herbert Grundmann, Bd. 4, Stuttgart 81959 (4. Nachdruck 1965), S. 25; b) Fritz Fischer, Vom Zaun gebrochen – nicht hineingeschlittert. Deutschlands Schuld am Ausbruch des Ersten Weltkriegs, in: Die Zeit vom 3. September 1965, Nr. 36, S. 30; c) Christopher Clark, Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, übersetzt von Norbert Juraschitz, München 142013, S. 716 f.; d) Gerd Krumeich, Die 101 wichtigsten Fragen: Der Erste Weltkrieg, München 2014, S. 29; e) Annika Mombauer, Die Julikrise. Europas Weg in den Ersten Weltkrieg, München 2014, S. 117 1. Arbeitet die zentralen Aussagen der Historiker heraus. 2. Erläutert die Unterschiede der fünf Aussagen. Welche Argumentation überzeugt euch, welche nicht? 3. Vergleicht die Aussagen mit der Darstellung auf Seite 32 f. 4. Diskutiert, wo die Schwierigkeiten für die Urteilsbildung liegen. 35 31013_1_1_2015_010_053_kap1.indd 35 26.03.15 15:26 Nu r z u Pr üf zw ec ke n Ei ge tu m es C .C . B uc hn er V er la gs | |
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