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348 Nationale Identität unter den Bedingungen der Zweistaatlichkeit in Deutschland pfl ichten manche dieser Auffassung bei, meist unter Berufung auf die Aufwertung der Sozialpolitik in den 70er-Jahren. Allerdings betonen alle seriösen Untersuchungen die Grenzen der Legitimierung der DDR-Sozialpolitik und deren widersprüchlichen, teils Anerkennung stiftenden, teils Protest hervorrufenden Wirkungen. […] Hockerts1 zufolge sind die „sozialistischen Errungenschaften“ wie Vollbeschäftigung und Grundversorgung von der Bevölkerung insgesamt angenommen und genutzt worden. Aber als Herrschaftsstützen seien sie viel zu schwach, wenn nicht gar morsch gewesen. […] Die Sozialpolitik fand nicht nur Zustimmung, sie rief auch Widerspruch hervor, zum Beispiel aufgrund offenkundiger Leistungsmängel, wie im Falle der mangelhaften Altenpfl ege, der verfallenden Bausubstanz in den Städten, der Ausstattungsmängel des Gesundheitswesens, und Unzufriedenheit ob der Vernachlässigung produktionsferner Lebenslagen und Risiken, wie bei vielen Rentnern. […] Damit sind Kehrseiten der DDR-Sozialpolitik angesprochen, die kaum legitimierend wirken. Zu den Legitimierungsgrenzen ist ein Weiteres zu zählen: Die DDR-Sozialpolitik legte ihre Bürger viel stärker als die Sozialpolitik westlicher Prägung auf eine Politiknehmerrolle fest. Soweit dies den Polio „Die Ausgezeichnete.“ Gemälde (124,5 x 100,0 cm) von Wolfgang Mattheuer, 1973/74. p p Die Ausgezeichnete – eine „Heldin der Arbeit“? Beschreiben Sie das Gemälde und interpretieren Sie es mit Blick auf die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung der 1970er-Jahre in der DDR. tiknehmer der unbotmäßigen Eigeninitiative beraubte, konnte man darin eine systemund ideologiegerechte Konsequenz sehen. Doch der Politiknehmerstatus förderte Anspruchshaltung und Passivität. Überdies verhinderte er, was die DDR-Sozialpolitik der parteioffi ziellen Ideologie zufolge eigentlich bewirken sollte: die Entwicklung von Qualifi kation und Staatsbürgertugenden einer loyalen, produktiven und konstruktiv mitwirkenden „sozialistischen Persönlichkeit“. Doch von der war ebenso wenig zu sehen wie von der Steigerung der Produktivität, die man sich von der „Einheit von Wirtschaftsund Sozialpolitik“ erhoffte. Eine noch gefährlichere Legitimierungsgrenze bestand für die Sozialpolitik der DDR in dem Ost-West-Vergleich, vor allem dem Vergleich mit der Bundesrepublik Deutschland. Hier stößt man auf die Achillesferse des DDR-Sozialismus. Im OstWest-Vergleich erwiesen sich seine „sozialen Errungenschaften“ einschließlich der Sozialleistungen als mittelmäßig, nicht selten als unzulänglich, oft als unattraktiv. Das ergab sich aus den repressiven Strukturen des Staatswesens und dem niedrigeren Entwicklungsstand der DDR-Wirtschaft, der rückständigen Technologie, der geringen Qualität der Dienstleistungen, der niedrigeren Kaufkraft der Sozialeinkommen und Löhne und dem unzureichenden Angebot an Konsumgütern des gehobenen Bedarfs. Die nur mäßige Produktivität der DDR-Wirtschaft bedeutete einen großen Rückstand an volkswirtschaftlichem Wohlstand sowie an privatem und öffentlichem Konsumniveau gegenüber den fortgeschrittenen westlichen Industrieländern wie der Bundesrepublik Deutschland. Vor diesem Rückschritt schrumpften die „sozialen Errungenschaften“ des SED-Staates zu Wohltaten, welche die überwältigende Mehrheit der DDR-Bürger bei erster Gelegenheit gegen die volle Teilhabe an den Gütern der Sozialen Marktwirtschaft und des Sozialstaats der Bundesrepublik Deutschland eintauschte. Zitiert nach: Manfred G. Schmidt, Grundzüge der Sozialpolitik in der DDR, in: Eberhard Kuhrt, Hannsjörg F. Buck und Gunter Holzweißig (Hrsg.), Die Endzeit der DDR-Wirtschaft – Analysen zur Wirtschafts-, Sozialund Umweltpolitik, O pladen 1999, S. 297 ff. 1. Listen Sie Vorund Nachteile der „Einheit von Wirtschaftsund Sozialpolitik“ auf. Diskutieren Sie, ob man tatsächlich von einer „Einheit“ sprechen kann. 2. Erläutern Sie den Einfl uss des permanenten Vergleichs mit der Bundesrepublik auf die Mentalität der DDR Bevölkerung. 1 Hans Günter Hockerts: Professor für Neueste Geschichte (Zeitgeschichte) an der Ludwig-Maximilians-Universität München 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 4677_1_1_2015_312-361_Kap9.indd 348 17.07.15 12:13 Nu r z u Pr üf zw ec ke n Ei en tu m d e C .C .B uc hn er V er la gs | |
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