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M5 „Die Verfassung, nach der wir leben“ Laut Thukydides hält Perikles 431 folgende Rede auf die athenischen Gefallenen des ersten Kriegsjahres des Peloponnesischen Krieges: Die Verfassung, nach der wir leben, vergleicht sich mit keiner der fremden; viel eher sind wir für sonst jemand ein Vorbild als Nachahmer anderer. Mit Namen heißt sie, weil der Staat nicht auf wenige Bürger, sondern auf eine größere Zahl gestellt ist, Volksherrschaft (demokratía). Nach dem Gesetz haben in dem, was jeden Einzelnen angeht, alle gleichen Anteil; der Geltung nach aber hat im öffentlichen Wesen den Vorzug, wer sich irgendwie Ansehen erworben hat, nicht nach irgendeiner Zugehörigkeit, sondern nach seinem Verdienst; und ebenso wird keiner aus Armut, wenn er für die Stadt etwas leisten könnte, durch die Unscheinbarkeit seines Namens verhindert. Sondern frei leben wir miteinander im Staat und im gegenseitigen Geltenlassen des alltäglichen Treibens, ohne dem lieben Nachbar zu grollen, wenn er einmal seiner Laune lebt, und ohne jedes Ärgernis zu nehmen, das zwar keine Strafe, aber doch kränkend anzusehen ist. [...] Wir vereinigen in uns die Sorge um unser Haus zugleich und unsre Stadt, und den verschiedenen Tätigkeiten zugewandt, ist doch auch in staatlichen Dingen keiner ohne Urteil. Denn nur bei uns heißt einer, der daran gar keinen Anteil nimmt, nicht ein stiller Bürger, sondern ein schlechter, und nur wir entscheiden in den Staatsgeschäften selber oder denken sie doch richtig durch. Denn wir sehen nicht im Wort eine Gefahr fürs Tun, wohl aber darin, sich nicht durch Reden zuerst zu belehren, ehe man zur unnötigen Tat schreitet. Denn auch darin sind wir wohl besonders, dass wir am meisten wagen und doch auch, was wir anpacken wollen, erwägen, indes die andern Unverstand verwegen und Vernunft bedenklich macht. Die größte innere Kraft aber wird man denen mit Recht zusprechen, die die Schrecken und Freuden am klarsten erkennen und darum den Gefahren nicht ausweichen. Auch im Edelmut und der Treue ist ein Gegensatz zwischen uns und den meisten. Denn nicht mit Bitten und Empfangen, sondern durch Gewähren gewinnen wir uns unsre Freunde. Zuverlässiger ist aber der Wohltäter, da er durch Freundschaft sich den, dem er gab, verpfl ichtet erhält – der Schuldner ist stumpfer, weiß er doch, er zahlt seine Leistung nicht zu Dank, sondern als Schuld. Und wir sind die einzigen, die nicht so sehr aus Berechnung des Vorteils wie aus sicherer Freiheit furchtlos andern Gutes tun. [...] Zusammenfassend sage ich, dass insgesamt unsre Stadt die Schule von Hellas sei. Thukydides, Der Peleponnesische Krieg 2,37-41,2 (gekürzt); zitiert nach: HansJoachim Gehrke und Helmuth Schneider (Hrsg.), Geschichte der Antike. Quellenband, Stuttgart 2007, S. 128 f. 1. Charakterisieren Sie den vorbildlichen Bürger, wie er in der Rede des Perikles entworfen wird. Welche Stärke gewinnt die attische Polis durch die Demokratie? 2. Begründen Sie, warum es sich bei der Darstellung um ein Ideal handelt und inwiefern dem die attische Demokratie nicht gerecht wurde. 3. Vergleichen Sie mit dem Idealbild eines Bürgers in unserer parlamentarischen Demokratie. i Statue des Thukydides vor dem österreichischen Parlament in Wien. Foto von 2006. Wer das Parlamentsgebäude in Wien betritt, passiert die Statuen von vier griechischen und vier römischen Geschichtsschreibern. Sie sollen die Abgeordneten des Parlaments ermahnen, Entscheidungen zu treffen, die auch vor dem Urteil der Geschichte Bestand haben können. 5 10 15 20 25 30 35 40 45 25Die Polis der Athener N r z u Pr üf zw ec ke n Ei ge nt um d e C .C .B uc hn er V er la gs | |
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