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Die DDR – ein Unrechtsstaat? M2 Der Staat als Räuber der Volksgewalt Marianne Birthler, Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR von 2000 bis 2011, die die Akten und Dokumente des Staatssicherheitsdienstes („Stasi“) verwaltet und erforscht, entgegnet: Es wäre abwegig, Gesine Schwan vorzuwerfen, sie verharmlose die SED-Diktatur. Die streitbare Antikommunistin hat das politische System der DDR öffentlich und schonungslos bereits zu einer Zeit kritisiert, als dies vielen, auch in der SPD, noch sauer aufstieß. […] So weit, so einig. Aber warum dann dieser Streit um den Begriff „Unrechtsstaat“? […] Die DDR war eine Diktatur – und deren Wesen besteht ja gerade darin, dass die politische Macht des Staates nicht demokratisch durch das Volk legitimiert ist. Der Staat war allein das Instrument der Herrschaft der führenden Partei – ihr vollständig unterworfen. Das Volk hatte weder theoretisch noch praktisch die Möglichkeit, an diesem Machtverhältnis vorbei Einfl uss auf staatliches Handeln zu nehmen. […] Doch nur dort, wo das Volk als Souverän seine Macht in freier Entscheidung und auf Zeit auf den Staat übertragen hat, ist es auch mitverantwortlich für staatliches Handeln. In der DDR war der Staat kein Treuhänder der Volksgewalt, sondern ihr Räuber. Er stand nicht für die Gesamtheit seiner Staatsbürger ein, sondern er fürchtete sie. Deswegen hat er für seine Sicherheit einen Apparat aufgebaut, dessen Dimension – gemessen an der Bevölkerungszahl – größer war als die jeder anderen Geheimpolizei. Der Daseinszweck des Ministeriums für Staatssicherheit bestand darin, den Staat vor den eigenen Bürgern zu schützen. Dass sich die Staatssicherheit stolz „Schild und Schwert der Partei“ nannte, entlarvt die eigentlichen Verhältnisse: Statt der proklamierten Einheit von Volk und Staat gab es in Wahrheit nur die Einheit von Staat und SED. […] Doch die Rechtschaffenheit und die Selbstbehauptung vieler Menschen gegen SED und Staat, die wenigen Inseln der Angstfreiheit in den Kirchen, die immer stärker werdende Opposition – all das stellt nicht infrage, dass der Herrschaftsanspruch des SED-Staats totalitär war. Es beweist vielmehr, dass der Anspruch der SED, etwa ihr Ideal der „sozialistischen Persönlichkeit“, nicht durchsetzbar war und durch den EigenSinn der Menschen begrenzt wurde. […] Bleibt die Frage, was genau der Begriff Unrechtsstaat meint. Deutschland ist nicht deshalb ein Rechtsstaat, weil es hierzulande nur Recht und kein Unrecht gäbe, sondern weil die Existenz des Staates, weil Regierung und Gesetzgeber an verbindliche Werte und Rechtsnormen gebunden sind und diese Bindung durch unabhängige Gerichte gesichert wird. Analog dazu ist auch die Bezeichnung Unrechtsstaat nicht davon abhängig, dass nur Unrecht geschieht. Zum einen meint der Begriff, dass die Prinzipien des Rechtsstaats keine Geltung haben und staatliche Macht nicht rechtmäßig begründet ist. In diesem Sinne war die DDR zweifellos ein NichtRechtsstaat, ein Un-Rechtsstaat. Sie war aber auch ein Unrechts-Staat. Ein Staat, dessen Existenz schon auf Unrecht und auf der Verletzung von Menschenrechten beruhte, der seine Bürger staatlicher Willkür unterwarf und ihrer Rechte beraubte, der allein festlegte, was falsch und richtig war, der Schulen, Universitäten, Medien und Gewerkschaften gleichschaltete, der Menschen mit abweichendem Verhalten zu Feinden erklärte und verfolgte, der das eigene Volk einmauerte und Menschen, die vor ihm fl üchten wollten, erschoss – und all dies, um die Macht der SED zu sichern. Die DDR ist ein Unrechtsstaat, und zwar nach allen denkbaren Defi nitionen. Marianne Birthler, Liebe Ossiversteher! Die DDR keinen Unrechtsstaat nennen zu dürfen beleidigt den wachen Verstand, in: DIE ZEIT, Nr. 28 vom 2. Juli 2009 (gekürzt) 1. Zeigen Sie anhand von M1 und M2 die Kontroverse auf. 2. Überprüfen Sie die Stellungnahmen M1 und M2 anhand der Informationen im Darstellungstext auf den Seiten 441 468 (Sachurteil). 3. Arbeiten Sie die Kriterien heraus, nach denen die Kontrahentinnen in M1 und M2 urteilen (Werturteil). 4. Die DDR – ein Unrechtsstaat? Nehmen Sie Stellung. 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 479 i „DDR war sozial besser!“ Demonstration gegen die Reformen der „Hartz-Kommission“ in Berlin. Foto vom Oktober 2004. p Analysieren Sie die Abbildung mit Blick auf die hier vorgestellte Kontroverse zum Thema „Die DDR – ein Unrechtsstaat?“. Nu zu P rü fzw ec ke n Ei ge nt u d es C .C .B uc hn er V er la gs | |
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