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83 Q4 Synagoge (Wiesbaden) 1869 wurde die Synagoge in Wiesbaden feierlich eingeweiht. In der Reichspogromnacht am 9. November 1938 wurde sie mehrfach in Brand gesetzt und bis auf die Grundmauern zerstört. Die Reste der Ruine wurden 1939 abgebrochen. 5 10 15 20 25 30 35 40 45 5 10 15 20 Q2 Wie einer lernte, Jude zu sein Der Philosoph Theodor Lessing schreibt 1935 über seine Kindheit im Deutschen Kaiserreich: Der Religionsunterricht gefi el mir, weil ich das Märchenerzählen und Geschichtenausspinnen liebte. Man ließ mich zunächst am allgemeinen Religionsunterricht teilnehmen, ohne mir zu sagen, dass ich ein jüdisches Kind sei. Zu Hause war nie vom Judentum die Rede. Es gab in der Familie keine jüdischen Bräuche mehr. Es entstand daher ein unklarer Riss, als mir ziemlich spät bewusst wurde, dass ich nicht, gleich den andern, Christ sei. Das Verspotten der Judenkinder war nicht bös gemeint. Das Wort Jude war für die hannoverschen Jungen ein Schimpfwort wie Lork1 oder Buttjer2. Man hänselte und ich tat arglos mit. In der dreiklassigen Vorschule gab es außer mir nur zwei Judenkinder, Süßapfel und Ransahoff. Süßapfel war immer Erster der Klasse, Ransahoff, ein stark degenerierter3 Junge, wurde immer geknufft. Kinder sind grausam und auch ich quälte den armen Ransahoff, bis er eines Tages, als ich zu ihm „Jude“ sagte, antwortete: „Bist ja auch einer.“ Ich sagte empört: „Ist nicht wahr“, erkundigte mich aber bei meiner Mutter, was ein Jude sei. Sie lachte und gab eine ausweichende Antwort. Einmal aber zeigte sie mir auf der Straße einen Mann im Kaftan4 und sagte: „Da geht ein Jude.“ Daraus schloss ich, dass dann wir keine „richtigen“ seien. Aber dies Wort Jude wurde mir unheimlich. Da ich alle die vielen vaterländischen und religiösen Vorurteile der Schule kindlich in mich einließ und da zu Hause keine Gegengewichte wirkten, so glaubte ich, dass Jude etwas Böses sei. „Die Juden haben unsern lieben Herrn Jesus gekreuzigt.“ Der Religionsunterricht wandelte sich von Klasse zu Klasse immer mehr in Glaubensunterricht. Schon als Neunjähriger fühlte ich mich von der allgemeinen Abneigung wider die Juden mitbetroffen. Unter den Kindern lief ein albernes Neckverschen um: „Jude, Jude Itzig, mach dich nicht so witzig.“ Sobald der Vers gesungen wurde, schämte ich mich, und diese Feinnervigkeit wurde von andern Knaben bald herausgefühlt. Wenn ich in das Klassenzimmer trat, so sangen einige Raufl ustige: „Jude, Jude Itzig, mache dich nicht witzig“, worauf ich losbrüllte: „Macht doch ihr mich nicht witzig.“ Nach: Theodor Lessing: Einmal und nie wieder (Originalausgabe 1935), Gütersloh 1969, S. 112 1 Lork: niederdt. Schimpfname, etwa: roher, plumper Mensch 2 Buttjer, Butjer: niederdt. Schimpfname, etwa: unzuverlässiger, hinterhältiger Mensch 3 degeneriert: in der (körperlichen oder geistigen) Entwicklung zurückgeblieben 4 Kaftan: langer, schwarzer Mantel; Tracht der strenggläubigen Juden Q3 Eine Antwort auf einen Judenhasser 1879 rechtfertigt der deutsche Historiker Heinrich von Treitschke den Antisemitismus öffentlich. Der jüdische Historiker Heinrich Graetz antwortet ihm im selben Jahr: Der Genius1 des deutschen Volkes möge Ihnen verzeihen, dass Sie das un überlegte Wort ausgesprochen haben: Die Juden seien ein Unglück für das deutsche Volk. Sie stellen damit diesem Volke ein wenig schmeichelhaftes Zeug nis aus, das dieses in seiner Kernhaftigkeit mit Unwillen zurückweisen wird. Wie? 40 Millionen Deutsche sollen in Gefahr sein, von einer Handvoll Juden korrumpiert2 und entsittlicht zu werden? Es ist ein Schimpf, den Sie ihnen antun, wie Sie überhaupt dieses Heldenvolk beleidigen, indem Sie ihm volles Natio nalgefühl absprechen. […] Glücklicherweise stehen die Sachen anders. Die Bewegung gegen die Juden ist keineswegs tief und groß. Zählen oder wägen Sie die judenfeindlichen Stimmen, denen Sie sich zugesellen – auch ohne Vergleich mit den judenfreundlichen – und Sie müssen fi nden, dass sie ebenso vereinzelt wie wenig bedeutend sind. Walter Boehlich (Hrsg.): Der Berliner Antisemitismusstreit, Frankfurt am Main 1988, S. 26 1 Genius: schöpferisch begabter Geist 2 korrumpieren: verderben 1. Wie bei anderen Religionsgemeinschaften auch, gibt es bei Juden unterschiedliche Einstellungen zum Glauben und zu den religiösen Bräuchen. Zeige die unterschiedlichen Einstellungen in Q 2. Vergleiche mit den Einstellungen bei Christen. 2. Erläutere, warum es gefährlich ist, wenn angesehene Persönlichkeiten wie der Universitätsprofessor Treitschke allgemeine Verleumdungen wie „Die Juden sind unser Unglück“ öffentlich äußern (Q 3). 3. Diskutiert, wie die Menschen in einem Staat auf derartige Verleumdungen reagieren müssen. 4. Nennt Beispiele, wie (junge) Menschen heute angegriffen werden. Vergleicht mit Q 2. 5. Sucht Zeugnisse jüdischen Lebens aus dem 19. Jahrhundert an eurem Wohnoder Schulort. Lesetipp: Inge Barth-Grözinger: Alexander, Stuttgart 2009 (Roman einer jüdischen Bankiersfamilie, die die neuen Möglichkeiten für jüdische Unternehmer zu nutzen versteht, aber auch Ablehnung und Hass ausgesetzt ist) N u r zu P rü fz w e c k n E ig e n tu m d e s C .C . B u c h n e r V e rl a g s | |
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