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II Ich bin noch nie von der Stadt allein in Lucys Haus zurückgefahren. Es sind erst wenige Wochen vergangen, seit ich sie aus dem Blütenstaubzimmer herausgeschleppt habe. Manchmal wecken mich Geräusche von draußen und ich kann beobachten, wie Lucy in der Morgendämmerung, wenn noch alles still ist, im Garten die Blütenköpfe zwischen die Finger nimmt und daran riecht. Mit den Fingernägeln zwickt sie die länglichen Staubblätter von den Stengeln und sammelt sie ein. Dann geht sie ins Blütenstaubzimmer und schüttelt den Staub herunter. Der Blütenstaub liegt überall am Boden und auf dem Fensterbrett unter den hohen Kellerfenstern. Eine Matratze mit einem Laken, der einzige Gegenstand im Raum, liegt auf der Erde zwischen den Kellersäulen. Auf dieser Matratze hatte sie gelegen, nachdem Alois gestorben war. Am Morgen nach der Beerdigung habe ich aus einem Fenster im Esszimmer beobachtet, wie ein Müllwagen vor das Haus fuhr und Lucy und ein paar Männer alles, was Alois gehört hatte, in den Müllcontainer warfen. Die Bilder, die zu groß für den Container waren, hackte ein Mann mit einem Beil in kleinere Stücke. Gleich nachdem sie weggefahren waren, ging auch Lucy fort. Erst spät abends kam sie mit einem Korb voll frisch gepflückter Blütenköpfe zurück. Dies ging einige Tage so und während dieser Zeit beantwortete sie keine meiner Fragen, sprach nie ein Wort. Als der Boden in Alois’ leergeräumtem Atelier ganz mit Blütenstaub bedeckt war, schloss sie sich darin ein. In die schwere Eisentür, die in das Atelier führt, hatte Alois ein kleines Fenster eingebaut, damit Lucy sehen konnte, ob er malte oder in der zwischen den Kellersäulen aufgespannten Hängematte lag. Nur dann durfte sie zu ihm hineingehen. Durch dieses kleine runde Fenster aus Plexiglas habe ich Lucy immer wieder zugerufen. Anfangs habe ich ihr auch mit beiden Armen in der Luft zugewinkt, was ich aber bald aufgab, weil sie nie zum Fenster sah. Ich versuchte, sie mit allen möglichen Vorschlägen herauszulocken. Erst waren es Ausflüge, dann Reisen in andere Länder. Zuletzt schilderte ich ihr den Plan einer Weltreise. Ich zeichnete die Route auf ein Papier und heftete es ans Fenster, damit sie es sehen und darüber nachdenken konnte. Am folgenden Morgen rief ich ihr zu: „Was ist, gehen wir?“ Sie regte sich nicht. Ich trat gegen die Tür, die sich auch nicht bewegte, als ich fluchend dagegenrannte. Das Mutterbündel, das ich durch das kleine Fenster anstarrte, lag da und schwieg. Das winzige, kaum sichtbare Beben des Atems in ihrem Körper war das einzige Lebenszeichen. Ich bat sie, mir wenigstens ein Zeichen zu geben, dass sie mir zuhörte; sie rührte sich nicht. Schließlich drohte ich ihr mit eiserner Stimme, die Ärzte einer psychiatrischen Klinik zu holen und nach ihrer Einlieferung das Haus in Brand zu stecken. Sie blieb bewegungslos, stumm, mit dem Gesicht nach unten auf dem Laken. 60 65 70 75 80 85 90 251Umgang mit Texten und Medien Ich schreibe … Nu r z u Pr üf zw ec n Ei ge nt um d es C .C . B uc hn er V er la gs | |
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