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konnte ich nicht mehr einschlafen. Eines Abends, Ahorn, ich beobachtete seit Mittag, wie das Licht sich verdüsterte, zogen gezackte Wolken eilig über den Himmel. Es donnerte. Der Wald war schon ganz schwarz geworden, als der Regen über dir zusammenbrach. Ich saß frierend im Bett, als sei ich selbst bedroht und sah, wie der Blitz in dich einkrachte. Einen Moment lang glühtest du auf, dein Stamm begann zu brennen. Die Flammen, die sich um dich geschlungen hatten, züngelten sich den Ästen entlang, und die Blätter rollten sich auf zu schrumpligen kleinen Ballen, ein feiner vom Sturm fortgetragener Ascheregen. Langsam löschten die niederprasselnden Tropfen das Feuer und der Sturm ließ dich zurück. Ein verkohlter, verkrüppelter Ahorn. Am nächsten Tag zeigte man mit den Fingern auf dich. Der Baum ist tot, sagten die Leute im Dorf. Aber du bist nicht tot, Ahorn, nur sehr alt geworden. Zusammen sind wir hundertundneun Jahre alt. Der Sturm hat deine Blätter fortgetragen, ein Blitz deinen Stamm aufgebrochen und weil weit und breit neben dir kein anderer Baum steht, Ahorn, weil dich jeder sieht, der im Dorf den Kopf zum Horizont erhebt, ist man auf die Idee gekommen, dich zu fällen. Heute früh bin ich aufgestanden und gegangen. Für immer. Im Dorf brennt jetzt kein Licht mehr. Das Tal ist eine schwarze Grube. Dort schlafen meine Eltern. Vielleicht haben sie die Polizei losgeschickt, nach mir zu suchen. Niemand wird mich finden. Bald wirst du gefällt, Ahorn. Ich werde noch schlafen, wenn die Männer im Morgengrauen mit der Motorsäge den Berg hochkommen. Wenn ich in deine Krone hochblicke, ist es dunkel. Nur Ameisen kann ich sehen, wie sie winzige Aschestückchen über den Rand der Öffnung tragen. Sie bauen einen Hügel mit deiner Asche, Ahorn. Ich sitze auf einer deiner breiten Wurzeln. Es riecht nach nassem Moos und dein Stamm ist kalt. Ich muss an ein Kind denken, im Bauch der Mutter. Es liegt zusammengekauert in einer durchsichtigen Blase, als ob es schliefe. Oder tot sei. Wenn ich jetzt dort unten wäre, Ahorn, wie immer aufrecht im Bett säße und hinausschaute, könnte ich dich nicht sehen. Denn der Mond steckt hinter dicken trüben Wolken. Und du bist, wie der Hügel und der Wald und alles, was diese Gegend ist, ganz von der Nacht verschluckt. Ich würde mich nicht hinlegen, Ahorn, um mich auszuruhen, ich würde warten, bis das dünne Morgenlicht dich langsam aus der Dunkelheit herausschälte. Aber heute werden wir nicht zusehen, wie der Tag ins Dorf einbricht. Wir werden den Lärm nicht mehr hören, Ahorn, und die Erschütterung nicht bemerken, wenn sich die Zähne der Säge in dein Holz schlagen. 255Schreiben: Literarische Texte verfassen Ich schreibe … 35 40 45 50 55 60 65 70 75 Nu r z u Pr üf z ec ke n Ei g nt um s C .C . B uc n r V er la gs | |
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