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Das 20. Jahrhundert wird oft als „Jahrhundert der Flüchtlinge“ oder als „Jahrhundert der Vertreibungen“ betitelt. Vor allem der Zweite Weltkrieg führte in Europa zu einer beispiellos hohen Zahl von Zwangswanderungen, die vor allem aus der Expansion und schließlich der Niederlage des nationalsozialistischen „Dritten Reiches“ resultierten. Deutschland hatte einen Krieg entfacht, der wahrscheinlich 40 Millionen Europäer das Leben kostete und große Teile des Kontinents zerstörte. Das NS-Regime wollte die Herrschaft über Europa auch erreichen, indem millionenfach Europäer dazu genötigt wurden, ihre Heimat unter Zwang zu verlassen. Das Scheitern der nationalsozialistischen Gewaltpolitik führte schließlich dazu, dass mit und nach Kriegsende Millionen Deutsche ihre Heimat in Ost-, Ostmittelund Südosteuropa verlassen mussten. Zwangsmigrationen sind Ergebnis einer Nötigung zur Abwanderung aus politischen, ethno-nationalen, rassistischen oder religiösen Gründen. Viele Menschen begaben sich auf die Flucht vor den vorrückenden Truppen oder militärischen Auseinandersetzungen, die ihr Leben bedrohten. Neben die Flucht trat die Evakuierung: Regierungen und lokale Behörden forderten im Krieg Teile der eigenen Bevölkerung auf, Städte und Dörfer zu verlassen, weil die Front näher rückte oder aufgrund von Luftangriffen Lebensgefahr bestand. In der Regel gingen sowohl die Evakuierungsbehörden als auch die betroffene Bevölkerung davon aus, dass eine Rückkehr nach dem Ende der Notsituation möglich sei. Zwangsmigration im und nach dem Krieg konnte aber auch gewaltsame Vertreibung oder Umsiedlung bedeuten, die sich oft auf ganze Bevölkerungsgruppen erstreckte. Umsiedlung kann defi niert werden als staatliche Zwangsmaßnahme zur zielgerichteten Verlagerung von Siedlungsschwerpunkten größerer (Minderheiten-)Gruppen, Vertreibung verweist demgegenüber auf eine staatliche Zwangsmaßnahme der Initiierung und Durchsetzung räumlicher Bevölkerungsbewegungen, die keine Maßnahmen zur Wiederansiedlung umfassten. Nicht selten verbanden sich solche Formen mit einer Deportation zur Zwangsarbeit. Die Zahl der Flüchtlinge, Vertriebenen und Deportierten kann allein für die militärische Expansionsphase Deutschlands zwischen 1939 und 1943 auf europaweit 30 Millionen Menschen geschätzt werden und damit auf nicht weniger als fünf Prozent der Bevölkerung des Kontinents. Spätestens seit Anfang 1943 schmolz das Territorium des „Großdeutschen Reiches“ und seiner Verbündeten zusammen. Nimmt man auch die zwischen 1943 und 1945 zu beobachtenden Massenzwangswanderungen hinzu, so kann für den Zweiten Weltkrieg insgesamt von 50 bis 60 Millionen Flüchtlingen, Vertriebenen und Deportierten ausgegangen werden. Und nach Kriegsende nahm das Ausmaß der Zwangsmigrationen nicht ab. Schätzungen gehen davon aus, dass nun weitere 25 Millionen Menschen zu Bewegungen im Raum vornehmlich in Ostmittel-, Südostund Osteuropa gezwungen wurden, darunter waren mehr als die Hälfte Deutsche. Die Folgen für Deutschland und Europa waren weitreichend. In diesem Kapitel erwerben Sie die Kompetenz, • die Hintergründe für die Zwangswanderungen im Umfeld des Zweiten Weltkrieges in Europa zu erläutern und dazu Stellung zu nehmen, • die Bedingungen von Flucht, Vertreibung, Umsiedlung und Deportation für die Betroffenen zu analysieren, • die Folgen der Zwangswanderungen für Gesellschaften, Ökonomie und politische Systeme zu interpretieren. Zur Methoden-Kompetenz siehe Seite 183 bis 185 („Karte“). Zum Kompetenzerwerb im Hinblick auf Konzepte zur Erklärung von Bedingungen, Formen und Folgen von Migration lesen Sie Seite 146 bis 149 („Theorie-Baustein: Migration“). Wichtige Namen • Edvard Benesˇ • Winston Churchill • Heinrich Himmler • Adolf Hitler • Josef Stalin Wichtige Begriffe • Deportation • Displaced Persons • „Ethnische Säuberungen“ • Evakuierung • Flucht • Integration • Kriegsgefangene • Potsdamer Konferenz • Umsiedlung • Vertreibung • Vertriebenenverbände • „Volksdeutsche“ • Zwangsarbeit • Zwangsmigration Hinweis Zur jüdischen Emigration aus Deutschland nach Beginn der NS-Herrschaft 1933 siehe Seite 287 ff. 141Auf einen Blick 32015_1_1_2015_Kap2_138-203.indd 141 01.04.15 10:11 Nu r z u Pr üf zw ec ke n Ei ge nt um d es C .C . B uc hn er V er la gs | |
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