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143Das „Jahrhundert der Flüchtlinge“ „Ethnische Säuberungen“ im 20. Jahrhundert Die lange Geschichte der „ethnischen Säuberungen“ im 20. Jahrhundert begann mit den Balkankriegen1 unmittelbar vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges und fand ihren ersten Höhepunkt mit dem griechisch-türkischen „Bevölkerungsaustausch“, der im Friedensvertrag von Lausanne 1923 festgeschrieben worden war. Er beendete den Griechisch-Türkischen Krieg (1920 1922) und legte fest, dass es keine Griechen auf türkischem Territorium – mit Ausnahme Istanbuls – mehr zu geben habe und keine Muslime in Griechenland. Ergebnis: Etwa 1,3 Millionen Griechen und ca. 430 000 Türken fl ohen oder wurden umgesiedelt (u M1). Die Zwangsmigrationen im und nach dem Ersten Weltkrieg beschränkten sich nicht auf den griechisch-türkischen „Bevölkerungsaustausch“ (u M2 und M3). Die ehemaligen Mittelmächte des Ersten Weltkrieges, also das Deutsche Reich, ÖsterreichUngarn, das Osmanische Reich und Bulgarien als die Kriegsverlierer, waren in der unmittelbaren Nachkriegszeit gezwungen, insgesamt mindestens zwei Millionen Menschen aus den verlorengegangenen Territorien aufzunehmen. Es kann davon ausgegangen werden, dass aufgrund der politischen Veränderungen durch die Friedensverträge nach dem Ersten Weltkrieg etwa fünf Millionen Menschen unfreiwillig die Grenzen überschritten. Und auch nach dem Ende von Flucht, Vertreibung und Umsiedlung im Umfeld des Zweiten Weltkrieges endete die Geschichte extremer Nationalismen und durch sie herbeigeführter Zwangsmigrationen keineswegs: Im Zusammenhang der Aufl ösung der britischen Kolonie Indien 1947 und der Teilung in die Staaten Indien und Pakistan mündete beispielsweise die nationalistisch aufgeheizte, von zahllosen Gewalttaten gekennzeichnete Atmosphäre in eine riesige Welle von Flucht und Vertreibung. Sie betraf 14 bis 16 Millionen Menschen, wobei sich der Umfang der Fluchtbewegungen aus Indien nach Pakistan sowie aus Pakistan nach Indien mehr oder minder entsprach. Das „Jahrhundert der Flüchtlinge“ endete in Europa schließlich mit Millionen von Flüchtlingen und Vertriebenen durch den Zerfall Jugoslawiens in den 1990er-Jahren und den Kriegen zwischen den Nachfolgestaaten. 1 1912 führten Serbien, Bulgarien, Griechenland und Montenegro einen Feldzug, um die von ihren Landsleuten besiedelten Gebiete von der osmanischen Herrschaft zu befreien. Als dies gelungen war, brach 1913 ein Krieg der Sieger um die Beute aus. o Wohnungsnot bei griechischen Flüchtlingen. Foto aus Athen von 1924. Griechische Flüchtlinge aus der Türkei müssen in den Logen des Athener Opernhauses kampieren, da die Wohnungen in der Stadt nicht ausreichen. Lesetipps p Klaus J. Bade, Europa in Bewegung. Vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 2000 p Mathias Beer (Hrsg.), Europa auf dem Weg zum ethnisch reinen Nationalstaat? Europa in Geschichte und Gegenwart, Tübingen 22007 p Philipp Ther, Die dunkle Seite der Nationalstaaten. „Ethnische Säuberungen“ im modernen Europa, Göttingen 2011 32015_1_1_2015_Kap2_138-203.indd 143 01.04.15 10:11 Nu r z u Pr üf zw ec ke n Ei ge nt um d es C .C . B uc hn er V er la gs | |
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