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459Der Holocaust-Gedenktag in Israel M1 Der Holocaust im israelischen Gedächtnis Natan Sznaider, Professor für Soziologie am Academic College of Tel Aviv, zur Entwicklung des israelischen Holocaust-Gedenkens: In den ersten Jahren der israelischen Staatlichkeit spielte der Holocaust im öffentlichen Leben keine zentrale Rolle. Auf Regierungsebene unternahm man kaum etwas, um an ihn zu erinnern. Erst 1951 verabschiedete das israelische Parlament eine Resolution, die den 27. Nisan als den „Tag der Erinnerung an die Märtyrer und Helden des Holocaust“ („Holocaust Martyrs and Heroes Remembrance Day“) festlegte, eine Resolution ohne rechtliches Gewicht. Das Datum war sorgfältig gewählt worden. Wie für die meisten israelischen Feiertage nahm man ein hebräisches Datum, den 27. Nisan. Der Tag wurde in die sogenannten „Omer“-Tage gelegt, eine Zeit, in der traditionelle Israelis der Ermordung der Juden durch die Kreuzfahrer gedenken. Außerdem wurde das Datum zwischen dem Ende von Pessach (der Gedenktag für den Aufstand im Warschauer Ghetto) und dem israelischen Unabhängigkeitstag festgesetzt. Hier waren alle Elemente vorhanden: die unendliche jüdische Verfolgungsgeschichte, der Widerstand gegen die Nazis und die Unabhängigkeit des Staates Israel. Das „Dort“ und das „Hier“ verbunden in uneinheitlicher Einheit. Es dauerte weitere acht Jahre, bis das Parlament 1959 ein Gesetz beschloss, das den gesetz lichen Rahmen für die Begehung dieses Tages festlegte. Vergnügungsstätten hatten geschlossen zu bleiben, und am Morgen sollte ein zweiminütiger Sirenenton im gesamten Land erklingen. […] Obgleich wir heute wissen, dass dieses offi zielle Schweigen Israels kein Einzelfall, sondern auch für andere Nationen typisch war, unterscheidet es sich von diesem doch durch das Warum. Zuerst einmal wurde die Auslöschung der Juden von den Israelis nie mit den anderen Verbrechen der Nationalsozialisten auf eine Stufe gestellt. Zweitens ist Israel das einzige Land, in dem der Holocaust eine nationale Erfahrung war, bevor man öffentlich über ihn sprach. Das heißt, er war eine Erfahrung, die einen großen Teil der Bevölkerung aus erster oder zweiter Hand betraf. Man könnte mit einigem Grund behaupten, dass diese nationale Erfahrung danach suchte, in Symbolen ausgedrückt zu werden, und dass Israel ironischerweise das eine Land auf der Welt sein könnte, von dem man sagen kann, dass die Erfahrung des Holocaust tatsächlich unterdrückt wurde – wenn wir mit Unterdrückung meinen, dass offi zielle Äußerungen bewusst vermieden wurden. In Israel war ein bewusstes kollektives Gedenken unmöglich, solange es keinen geeigneten Rahmen dafür gab. Und ein Rahmen, wie er im heutigen Israel dem Holocaust eine Bedeutung gibt, war zu Beginn unvorstellbar. Deshalb wurde von den offi ziellen Regierungsstellen in den ersten Jahren nach Israels Unabhängigkeit praktisch nichts unternommen, um an den Holocaust zu erinnern. Das hatte nichts mit Gefühllosigkeit oder anderen Ausdrucksformen emotionaler Kälte zu tun, wie man heute oft hört. Genauso wenig sind die späteren Äußerungen nur das Ergebnis bewusster Manipulation und „Instrumentalisierung“. Sowohl die ursprüngliche Unterdrückung als auch das jetzige geheiligte Gedenken sind gleichermaßen Ausdrucksformen des israelischen Selbstverständnisses und der Stellung Israels in der Welt. Als all diese Faktoren sich änderten, änderte sich zwangsläufi g auch Israels Verhältnis zum Holocaust. Als allgemeine Tendenz kann man feststellen, dass die offi zielle Bedeutung des Holocaust in Israel sich von etwas, dessen man sich schämen musste, hin zu einer geheiligten Erinnerung, die zu erhalten der Staat verpfl ichtet war, gewandelt hat. Diese historische Spannung zwischen einem fast säkularen1 Staat, der wie alle anderen behandelt werden möchte, und einem hybriden2 Staat, der für sich selbst sowohl moralische als auch religiöse Rechtfertigungen in Anspruch i Schweigeminuten in Tel Aviv am Holocaust-Gedenktag. Foto vom 29. April 2003. 1 säkular: weltlich 2 hybrid: von lat. hybrida für Mischling; hier aus zwei unterschiedlichen Systemen gemischter Staat 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 32015_1_1_2015_Kap4_442-469.indd 459 01.04.15 11:04 Nu r z u Pr üf zw ec ke n Ei ge nt um d es C .C . B uc hn er V er la gs | |
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