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473 M4 „Revolution“ in Deutschland? Der Historiker Andreas Rödder schreibt über das Ende der DDR: Wie nun sind diese Entwicklungen in der DDR im Herbst 1989 und überhaupt in Deutschland 1989/90 zu bezeichnen? Unterschiedliche Begriffe sind im Umlauf – Wende, Umbruch, Zusammenbruch, Implosion, Revolution, zudem mit Zusatzbegriffen –, die nicht nur unterschiedlich taugliche analytische1 Instrumente oder konzeptualisierte2 Sachurteile darstellen, sondern oftmals zugleich politisch-moralische Werturteile enthalten. „Wende“ ist ein offener Begriff für den Gesamtvorgang, doch wurde er von Egon Krenz mit eindeutig systemimmanenter3 Absicht geprägt; zudem ist er in Westdeutschland durch den Regierungswechsel von 1982 belegt und daher, wie auch der Begriff „Umbruch“, als Kennzeichnung des Gesamtvorgangs zu schwach. Das Etikett „Zusammenbruch“ benennt einen wichtigen Aspekt: ein handlungsunfähiges, marodes System, das unter dem Anstoß der Bürgerbewegung kollabierte – doch blendet es, und mehr noch der Begriff „Implosion“, ebendiesen Anstoß und somit den Anteil der Bürgerbewegung aus, denn ganz von allein brach das Regime nicht zusammen. Umgekehrt schreibt der Begriff „Revolution“, zumal in der Komposition als „friedliche“ oder gar, mit Großbuchstaben, als „Friedliche Revolution“ oder als „Bürgerrevolution“, der Opposition bzw. der Bürgerbewegung die entscheidende Bedeutung als verursachende Kraft für das Ende des SED-Staates als einer „Selbstbefreiung“ des Volkes zu. Diese Begriffl ichkeit blendet die Schwäche des Regimes und die Dimension des Zerfalls der sowjetischen Herrschaft aus und ist zudem sehr normativ4 aufgeladen, was die analytische Verwendung erschwert. Dies kann aber nicht bedeuten, den Revolutionsbegriff vollständig auszuschließen. Seine analytische Tauglichkeit hängt nicht von einer missverständlichen öffentlichen Verwendung, sondern von seiner Defi nition und von seiner Bezeichnungskraft ab […]. „Revolution“ ist ein suggestiver5 Begriff, dem allerdings eine eindeutige, allgemein akzeptierte Defi nition fehlt. Für eine handhabbare Begriffsbestimmung bietet sich ein Verständnis von Revolution als fundamentaler Veränderung der bestehenden politischen und sozialen Ordnung an, als Umwälzung, die zu einem Wechsel von Verfassung, politischem System und gesellschaftlichen Strukturen führt. Der Einsatz von Gewalt muss demgegenüber nicht zwingend Bestandteil einer Revolution sein; auch sind die Ursachen für die Kennzeichnung eines Vorgangs als Revolution nicht wesentlich. Entscheidendes Kriterium ist vielmehr der Grad des politisch-gesellschaftlichen Wandels. In diesem Sinne bedeutete das Ende der SED-Herrschaft in der Tat eine grundlegende Umwälzung des politischen Systems und der Gesellschaft der DDR. Es war keine Revolution in jenem verkürzten und normativ aufgeladenen Sinne der „Friedlichen Revolution“, in dem der Bürgerbewegung die alleinige oder vorrangige Bedeutung für den Sturz der Diktatur zugeschrieben wird. Der Gesamtvorgang aber war – auch mit Blick auf die internationale Dimension – nichts anderes als ein grundstürzender Wandel der bestehenden Ordnung und somit eine Revolution, in Deutschland auch mehr als die Ereignisse von 1848 und 1918, die vorbehaltlos als „Revolution“ bezeichnet werden. Und in Verbindung mit dem weiteren Fortgang, in dem der Untergang des SED-Regimes und der gesamten DDR schließlich in die Wiedervereinigung Deutschlands mündete, war es: eine deutsche Revolution. Andreas Rödder, Deutschland einig Vaterland. Die Geschichte der Wiedervereinigung, München 2009, S. 116 f. 1 analytisch: erklärend 2 konzeptualisiert: in einem Begriff zusammengefasst 3 systemimmanent: hier auf den Rücktritt Honeckers und die an gebliche Reformbereitschaft der SED unter Krenz bezogen 4 normativ: bewertend 5 suggestiv: das Gefühl ansprechend 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 32015_1_1_2015_Kap5_470-497.indd 473 01.04.15 10:42 Nu r z u Pr üf zw ec ke n Ei ge nt um d e C .C . B uc hn er V er la gs | |
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