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471 Materialien M1 Die Kirche in der Krise Martin Luther verfasst 1520 seine Schrift „An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung“. Darin heißt es u. a.: Der allerdurchlauchtigsten, großmächtigsten Kaiserlichen Majestät und dem christlichen Adel deutscher Nation D. Martinus Luther. [….] Die Romanisten1 haben mit großer Behendigkeit drei Mauern um sich gezogen, womit sie sich bisher beschützt haben, sodass niemand sie hat reformieren können, wodurch die ganze Christenheit greulich gefallen ist. Zum ersten: wenn man mit weltlicher Gewalt auf sie (ein) gedrungen ist, haben sie festgesetzt und gesagt, weltliche Gewalt habe kein Recht über sie, sondern umgekehrt: die geistliche sei über die weltliche. Zum zweiten: hat man sie mit der heiligen Schrift tadeln wollen, setzen sie dagegen, es gebühre niemand die Schrift auszulegen als dem Papst. Zum dritten: drohet man ihnen mit einem Konzil, so erdichten sie, es könne niemand ein Konzil berufen als der Papst. So haben sie uns die drei Ruten heimlich gestohlen, dass sie ungestraft sein können und sich in die sichere Befestigung dieser drei Mauern gesetzt, alle Büberei und Bosheit zu treiben, die wir denn jetzt sehen. […] Man hat’s erfunden, dass Papst, Bischöfe, Priester und Klostervolk der geistliche Stand genannt wird, Fürsten, Herrn, Handwerksund Ackerleute der weltliche Stand. Das ist eine sehr feine Erdichtung und Trug. Doch soll niemand deswegen schüchtern werden, und das aus dem Grund: alle Christen sind wahrhaftig geistlichen Standes und ist unter ihnen kein Unterschied außer allein des Amts halber, wie Paulus I. Kor. 12, 12 ff. sagt, dass wir allesamt ein Leib sind, [obwohl] doch ein jegliches Glied sein eigenes Werk hat, womit es den andern dienet. Das alles macht, dass wir eine Taufe, ein Evangelium, einen Glauben haben und [auf] gleiche [Weise] Christen sind, denn die Taufe, Evangelium und Glauben, die machen allein geistlich und Christenvolk. [...] Demnach werden wir allesamt durch die Taufe zu Priestern geweiht […]. Zit. nach: http://gutenberg.spiegel.de/buch/martin-luther-sonstigetexte-270/1 (Zugriff: 12. Januar 2015) M2 Was sind Krisen? Der Historiker Rudolf Vierhaus (1922 2011) defi niert in einem Lexikonartikel von 2002 den Begriff „Krisen“ so: Krisen sind Prozesse, deren Anfänge, Höhepunkte, Ende prinzipiell datierbar sind. Niedergangs-, Aufl ösungs-, Verfallsprozesse sind keine Krisen, wohl aber können ihnen sich steigernde Krisen vorangegangen sein. Krisen sind prinzipiell offene Prozesse; ihre Geschwindigkeit, ihr Ausgang sind nicht zwangsläufi g, ihr Ablauf und ihr Wendepunkt selten so deutlich erkennbar wie in einem Krankheitsprozess. […] Von Krisen kann gesprochen werden, wenn zuvor bestehende stabile und funktionierende Zustände sich aufzulösen beginnen, erodieren1, dysfunktional2 werden und die eingetretenen Störungen nicht mit hergebrachten Mitteln überwunden werden können, sondern eine renovatio, eine Reform, eine Revolution erforderlich wird und erfolgt; geschieht dies nicht, handelt es sich nicht (mehr) nur um eine Krise. Kennzeichen von Krisen ist, dass es in ihrem Prozess Alternativen gibt, Phasen und Konstella tionen, in denen sich entscheidet, ob sie überwunden werden können. Krisen sind keine Naturprozesse, wohl aber können z. B. Erdbeben, Flutkatastrophen, Dürreperioden Krisen auslösen: Hungerkrisen, aber auch Krisen des Vertrauens in die Fähigkeit von Regierung und Verwaltung, mit ihnen fertig zu werden. Naturprozesse können Bedingungen der Möglichkeit von Krisen sein, diese sind von Menschen erfahrene, erlittene, gemachte und genutzte Krisen. Allerdings genügt subjektiv oder auch kollektiv geäußertes Krisenbewusstsein nicht als hinreichender Beweis, sondern kann allenfalls als Indiz für tatsächliche Krisen gelten. Indes kann Krisenbewusstsein Verlauf und Ausmaß einer Krise wesentlich beeinfl ussen. Krisen müssen, um als solche bezeichnet werden zu können, objektiven Charakter haben, also nicht nur herbeigeredet sein, indem vorübergehenden und vereinzelten krisenhaft erscheinenden Symptomen von Veränderung aus Sorge übertriebene Bedeutung zugeschrieben wird. […] Es geschieht nicht selten, dass der Krisencharakter gerade langfristiger Veränderungsprozesse, in die viele Menschen und Lebensbereiche involviert waren, nachträglich von der historischen Forschung unterschiedlich interpretiert, infrage gestellt oder überhaupt bestritten wird. Stefan Jordan (Hrsg.), Lexikon Geschichtswissenschaft. Hundert Grundbegriffe, Stuttgart 2002, S. 193 195 1 erodieren: hier: zerstören 2 dysfunktional: einer Funktion, Wirkung o. Ä. abträglich, schädlich1 Romanisten: römische Kurie 5 10 15 20 25 30 5 10 15 20 25 30 35 32015_1_1_2015_Kap5_470-497.indd 471 01.04.15 10:42 Nu r z u Pr üf zw ec ke n Ei ge nt um d C .C . B uc hn er V er la gs | |
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