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61Umgang mit Texten und Medien Schon gelesen? Alberto Manguels berühmtes Buch „Eine Ge schichte des Lesens“ enthält viele überraschende In for mationen und Geschichten rund um das Lesen. Ein Kapitel befasst sich damit, dass das Le senlernen früher nicht immer er wünscht war. In South Carolina wurden […] strenge Gesetze erlassen, die allen Schwarzen, ob versklavt oder frei, das Lesenlernen untersagten. Diese Gesetze blieben bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts in Kraft. Über Jahrhunderte riskierten die afroamerikanischen Sklaven ihr Leben, wenn sie trotz aller Verbote und Schwierigkeiten die Kunst des Lesens erlernen wollten – in aller Heimlichkeit und manchmal in jahrelanger heroischer1 Anstrengung, wie man vielen Berichten aus dieser Zeit entnehmen kann. Die neunzig jährige Belle Myers Carothers erklärte in den dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts2 vor dem Federal Writers’ Projekt (das unter anderem die Lebensberichte ehemaliger Sklaven sammelte), dass sie lesen lernte, indem sie das mit Buchstabenklötzchen spielende Kind des Plantagenbesitzers beaufsichtigte. Als ihr Herr sie dabei ertappte, trat er sie mit Stiefeln. Doch Belle Myers gab nicht auf. Heimlich lernte sie weiter die Buchstaben auf dem Spielzeug des Kindes entziffern und dann auch die Wörter in einer alten Fibel, die sie irgendwo aufgetrieben hatte. „Eines Tages“, so berichtete sie, „fand ich ein Gesangbuch und entzifferte die Worte: ,When I Can Read My Title Clear‘. Ich war so glücklich, als ich merkte, dass ich lesen konnte, dass ich gleich losrannte und es allen anderen Sklaven erzählte.“ Der Sklave Leonard Black, ebenfalls beim Lesen ertappt, wurde von seinem Herrn so grausam ausgepeitscht, „dass er meinen Wissensdurst fürs Erste zum Erliegen brachte, und ich versagte mir alle weiteren Versuche bis zu meiner Flucht“. Doc Daniel Dowdy berichtete: „Wurde man das erste Mal bei Leseoder Schreibversuchen erwischt, bekam man den Ochsenziemer3 zu spüren, beim nächsten Mal die neunschwänzige Katze4, und beim dritten Mal wurde einem das erste Glied des Zeigefingers abgehackt.“ Bei den Sklavenhaltern der Südstaaten war es gang und gäbe, Sklaven zu erhängen, wenn sie versuchten, anderen das Lesen und Schreiben beizubringen. Nur auf Schleichwegen war es unter diesen Bedingungen den Sklaven möglich, das Lesen zu erlernen, entweder bei Mitsklaven, bei menschenfreundlichen Weißen oder unter Anwendung von Tricks, die das heimliche Lernen erlaubten. Der als Sklave geborene amerikanische Schriftsteller Frederick Douglass, einer der wortgewaltigsten Abolitionisten5 seiner Zeit, zudem Begründer mehrerer politischer Zeitschriften, erinnerte sich in seiner Autobiografie: „Meine Herrin las sehr oft aus der Bibel vor … das Wunder des Lesens erweckte meine Neugier und schürte in mir den Wunsch, ebenfalls lesen zu lernen. Bis dahin verstand ich nicht das Geringste von dieser wunderbaren Kunst, und meine 5 10 15 20 25 30 35 Alberto Manguel Eine Geschichte des Lesens 1 heroisch: heldenhaft 3 der Ochsenziemer: der Schlagstock 4 die neunschwänzige Katze: eine Peitsche aus neun Schnüren mit je einem Knoten 5 der Abolitionist: der Verfechter der Aufhebung der Sklaverei in den USA 2 Aufgaben: Seite 64 2 unseres Jahrhunderts: gemeint ist das 20. Jahrhundert Nu r z u Pr üf zw ec ke n Ei g nt m d es C .C . B uc hn r V er la gs | |
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