Volltext anzeigen | |
63Umgang mit Texten und Medien Schon gelesen? Helen Keller (1880–1968) war nach einer Hirnhautentzündung seit ihrem zweiten Le bens jahr blind und taub. Trotz dieser un vorstellbaren Hindernisse gelang es ihr durch die fürsorgliche Hilfe und Liebe ihrer Lehrerin Annie Sullivan, in kurzer Zeit lesen und schreiben zu lernen und sich mit ihrer Umwelt zu verständigen. Helen Keller schaffte den Schulabschluss; später studierte sie. Sie schrieb mehrere Bücher, darunter ihre Biografie „Die Geschichte meines Lebens“. Annie hatte Helen schon seit einer Weile nicht nur die Worte beigebracht, die sie lernen sollte und nach denen sie selber fragte, sie hatte ihr auch den ganzen Tag über alles, was sie taten, in die Hand buchstabiert. So lernte Helen die Buchstaben des Alphabets als bestimmte, immer wiederkehrende Berührungen in ihrer Handfläche, und wenn sie auch mug (Becher) und drink (trinken) verwechselte, so dämmerte ihr doch schon etwas. Dieses Etwas nahm am Morgen des 5. April 1887 Gestalt an. Helen wäscht sich und will die Bezeichnung für Wasser wissen. Annie buchstabiert ihr w-a-t-e-r in die Hand und denkt nicht mehr daran, bis ihr nach dem Frühstück einfällt, dass sie ihr mithilfe des neuen Worts den Unterschied zwischen Becher und trinken klarmachen kann: „Wir gingen zum Brunnenhäuschen, wo ich Helen den Becher unter das Rohr halten ließ, während ich pumpte. Als das kalte Wasser herausschoss und den Becher füllte, buchstabierte ich ihr w-a-t-e-r in die freie Hand. Das Wort, das so unmittelbar auf die Empfindung des kalten, über ihre Hand strömenden Wassers folgte, schien sie aufzuschrecken. Sie ließ den Becher fallen und stand wie gebannt. Ihr Gesicht leuchtet auf. Sie buchstabierte mehrere Male hintereinander water. Dann hockte sie sich auf den Boden und fragte, wie man den nennt, und zeigte auf die Pumpe und das Spalier, und plötzlich drehte sie sich um und fragte nach meinem Namen. Ich buchstabierte teacher (Lehrerin). In diesem Augenblick brachte die Kinderfrau Helens kleine Schwester in das Brunnenhäuschen, und Helen buchstabierte baby und deutete auf die Kinderfrau. Als wir ins Haus zurückgingen, war sie ungeheuer aufgeregt und lernte die Bezeichnung von jedem Gegenstand, den sie berührte, sodass sie ihren Wortschatz innerhalb weniger Stunden um dreißig neue Worte bereichert hatte.“ Fünfzehn Jahre später schreibt Helen Keller ihr erstes Buch, Die Geschichte meines Lebens. Darin erzählt sie auch von jenem Augenblick in dem Brunnenhäus chen, das sie an dem Duft des ihn umrankenden Geißblattstrauchs erkannte: „Mit einem Mal durchzuckte mich eine nebelhafte Erinnerung … und das Geheimnis der Sprache lag plötzlich offen vor mir. Ich wusste jetzt, dass ,Wasser‘ jenes wundervolle, kühle Etwas bedeutete, das über meine Hand strömte. Dieses lebendige Wort erweckte meine Seele zum Leben, spendete Licht, Hoff5 10 15 20 25 30 Katja Behrens Alles Sehen kommt von der Seele 3 Aufgaben: Seite 65 Nu r z P rü fzw ec ke n Ei ge nt um d es C .C . B uc ne r V er la gs | |
![]() « | ![]() » |
» Zur Flash-Version des Livebooks |