Volltext anzeigen | |
199Umgang mit Texten und Medien Lebenswünsche, Lebenswege Das kleine Mädchen saß aufrecht im Bett, das Kopfkissen im Rücken, die Decke hochgezogen bis zum Kinn. Wo Papa nur blieb? Nein, sie wollte noch nicht einschlafen. Manchmal wurde es spät in der Klinik, die kranken Kinder brauchten ihn noch oder die Studenten. Aber Maria wusste genau: Wenn er nach Hause kam und sie noch wach war, würde er mit ihr spielen. Sie hatte schon einen besonderen Vater, das wusste Maria. Und ihre Freunde und Freundinnen wussten es auch. Professor Friedrich Goeppert war gescheit. Er kannte die Tiere und die Pflanzen, das Wetter und die Sterne, und er wusste auf fast alle Fragen eine Antwort. Aber das war nicht das Besondere, gescheit waren die anderen Professorenväter in Göttingen auch. Das Besondere an Marias Vater war, dass Kinder ihn einfach ansprechen konnten, er redete gern mit ihnen, sogar lieber als mit Erwachsenen. Und er erlaubte Maria fast alles. Sie durfte allein in den Wald gehen, auf die höchsten Bäume klettern und die ganze Nacht wach bleiben, wenn sie wollte. Ja, sie durfte sogar hauen und treten und wild sein wie ein Junge, obwohl sie doch ein Mädchen war. Friedrich Goeppert war gerecht, er machte keinen Unterschied zwischen Jungen und Mädchen. „Werde nie eine Frau, wenn du groß bist.“ Das sagte er oft zu Maria, auf Spaziergängen oder beim Gutenachtsagen. Früher, als sie noch kleiner war, hatte Maria nicht gewusst, wie er das meinte: „keine Frau“. Natürlich würde sie eine Frau werden, sie war schließlich ein Mädchen. Aber Papa hatte es ihr erklärt. Die meisten Frauen, hatte er gesagt, führen ein langweiliges Leben, nur Kochen, Putzen, Einkaufen und Kinderhüten. Das ist bequem für die Männer, hatte er gesagt, die lassen sich gerne bedienen. Aber es darf nicht so bleiben, die Frauen werden dumm und stumpf dabei und das schadet auf die Dauer auch den Kindern. „Du wirst einen Beruf lernen“, hatte er zu Maria gesagt. „Du wirst studieren und etwas Interessantes tun.“ Etwas Interessantes – Maria wollte nichts lieber als das. Aber was war das Interessanteste? Die Mama war Lehrerin gewesen, Sprachlehrerin, und Klavierstunden hatte sie auch gegeben. Ob das interessant war? Wahrscheinlich nicht so sehr, denn ihre Mutter hatte das Unterrichten aufgegeben, und Klavier spielte sie nur noch, wenn Gäste da waren. Was ihr Vater machte, war da schon viel interessanter: Judith Rauch „Werde nie eine Frau, wenn du groß bist“ 5 10 15 20 25 30 35 40 2 Aufgaben: Seite 202 „Madonna der Zwiebeln“: Maria Goeppert Mayer (1906 –1972), deutsch-amerikanische Physikerin, Physik-Nobelpreisträgerin 1963 N u r zu P rü fz w e c k e n E ig e n tu d e s C .C . B u c h n e r V e rl a g s | |
![]() « | ![]() » |
» Zur Flash-Version des Livebooks |