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201Umgang mit Texten und Medien Lebenswünsche, Lebenswege Erich Kästner Mein lieber Kästner 5 10 15 20 25 30 35 „Der Verbotene“: Erich Kästner (1899 –1974), deutscher Autor, dessen Bücher im national sozialistischen Deutschland verboten waren 3 Aufgaben: Seite 202 Berlin, 19. Januar 1940, in einem Café am Kurfürstendamm Mein lieber Kästner! Früher schriebst Du Bücher, damit andere Menschen, Kinder und auch solche Leute, die nicht mehr wachsen, läsen, was Du gut oder schlecht, schön oder abscheulich, zum Lachen oder Weinen fandest. Du glaubtest, Dich nützlich zu machen. Es war ein Irrtum, über den Du heute, ohne dass uns das Herz weh tut, nachsichtig lächelst. Deine Hoffnungen waren das Lehrgeld, das noch jeder hat zahlen müssen, der vermeinte, die Menschen sehnten sich vorwärts, um weiterzukommen … Nun, Du weißt, dass Du im Irrtum warst, als Du bessern wolltest. Du glichst einem Manne, der die Fische im Fluss überreden möchte, doch endlich ans Ufer zu kommen, laufen zu lernen und sich den Vorzügen des Landlebens hinzugeben … Der Teufel muss Dich geritten haben, dass Du Deine kostbare Zeit damit vergeudest, der Mitwelt zu erzählen, Kriege seien verwerflich, das Leben habe einen höheren Sinn als etwa den, einander zu ärgern, zu betrügen und den Kragen umzudrehen, und es müsse unsere Aufgabe sein, den kommenden Geschlechtern eine bessere, schönere, vernünftigere und glücklichere Erde zu überantworten! Wie konntest Du nur so dumm und anmaßend sein! Warst Du denn nur deshalb nicht Volksschullehrer geblieben, um es später erst recht zu werden? Es ist eine Anmaßung, die Welt, und eine Zumutung, die Menschen veredeln zu wollen. Das Quadrat will kein Kreis werden; auch dann nicht, wenn man es davon überzeugen könnte, dass der Kreis die vollkommenere Figur sei. Die Menschen lehnen es seit Jahrtausenden mit Nachdruck ab, sich von uneigennützigen Schwärmern zu Engeln umschulen zu lassen. Sie verwahren sich mit allen Mitteln dagegen. Sie nehmen diesen Engelmachern die Habe, die Freiheit und schließlich das Leben. Nun, das Leben hat man Dir gelassen … ‚Wer die Menschen ändern will, beginne bei sich selbst!‘, lautet ein altes Wort, das aber nur den Anfang einer Wahrheit mitteilt. Wer die Menschen ändern will, der beginne nicht nur bei sich, sondern er höre auch bei sich selber damit auf! Mehr wäre hierüber im Augenblick nicht zu schreiben. Der Rest verdient, gelebt zu werden. Versuch es, und sei gewiss, dass Dich meine besten Wünsche begleiten! Dein unzertrennlicher Freund Erich Kästner N u r zu P rü fz w e c k n E ig e tu m d e s C .C . B u c h n r V e rl a g s | |
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