Volltext anzeigen | |
61Umgang mit Texten und Medien Zwei Welten in mir 35 40 45 50 55 60 65 70 75 „An eine bessere Welt.“ „Dann bist du richtig bei uns. Herzlich willkommen!“ Er zwinkerte mir zu und besiegelte mein Schicksal mit einem Stempel. […] Wir bezogen eine Neubauwohnung am Stadtrand. Die Eltern bekamen Arbeit im zwölften Stock einer Firma, die chemische Farbstoffe herstellte. Mutter war stolz, dass die Welt dank ihr farbiger wurde.Vom ersten Gehalt ging sie mit mir Möbel kaufen. Im Keller eines Einfamilienhauses zeigte uns der Hausherr gediegene Trödelware und nannte Preise, worauf Mutter den Kopf schüttelte und mit der Zunge schnalzte. Je aufmerksamer er uns anschaute, umso trauriger wurde er. Als könnte er davon fröhlicher werden, senkte er die Preise. Er senkte sie so sehr, dass Mutter nur noch nickte. Dieser Mann schämte sich vor uns seines Häuschens und des Friedens, in dem er lebte, schämte sich dafür, dass er nichts gegen das Unrecht, das unserem Land widerfahren war, tun konnte, und war bodenlos beschämt, dass sich Mama über seine Möbel freute. Obwohl er aufgewühlt war, wahrte er das Maß und erniedrigte uns nicht mit Spottpreisen. Ich hatte nicht gewusst, dass es eine so anständige Scham geben kann, und sie war es, die uns inmitten dieses bürgerlichen Gerumpels in der Fremde willkommen hieß. Wie es sich bei Begrüßungszeremonien gehört, kam ein Geschenk dazu. Als ich nach dem Preis eines roten Kelims1 fragte, hob der Mann diesen sanft wie ein Neugeborenes vom Boden auf und sagte: „Der gehört dir.“ Er tat es, ohne zu seufzen und ohne mir einen triefenden Kuss auf die Stirn zu drücken. So lernte ich, dass gute Gefühle hier getarnt und geräuschlos wie Partisanen2 unterwegs waren. Abends legte ich mich auf den Kelim und weinte. Von da an besuchte mich das Weinen einmal wöchentlich, ich öffnete ihm die Tür, und wir blieben die Nacht zusammen. In einer dieser Nächte fand ich heraus, dass ich reich war, ich besaß etwas, was dem sich schämenden Mann fehlte: Ich hatte ein tragisches Schicksal. Ich musste mich weder sorgen, es zu verlieren, noch um seineWertsteigerung be müht sein. Ein tragisches Schicksal war ein stabiler Besitz. Jene, die nur kleine Unglücke kannten, regten sich über aller lei Kleinkram auf. Es drohten keine Versorgungsengpässe, Waschmaschinen,Autos und Putzmittel standen zur Verfügung, und Mutter ge langte zur Überzeugung,wir seien glück lich. „Was hast du, Griesgram, lach doch mal“, ärgerte sie sich über mich. Seit ich meine weite Haut der Gemeinschaft verloren hatte, hüllte ich mich in enges Selbstmitleid, verkroch mich im 2 der Partisan: ein bewaffneter Kämpfer, der nicht zur regulären Armee eines Landes gehört 1 der Kelim: ein ge webter Teppich oder Wandbehang N u r zu P rü fz w e c k e n E ig e n tu m d e s C .C . B u c n e r V e rl a g s | |
![]() « | ![]() » |
» Zur Flash-Version des Livebooks |