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Krisen und Konflikte: Gesellschaft und Umwelt 235 M1 „Die Einsamkeit der Vielen“ Die Peking-Korrespondentin Angelika Köckritz und die Wirtschaftsredakteurin Elisabeth Niejahr bilanzieren in der Wochenzeitung „Die Zeit“ Chinas Ein-Kind-Politik: Die blauen Schachteln mit den Verhütungsmitteln gibt es in den Behörden Shanghais umsonst. Am Eingang öffentlicher Gebäude stehen Regale mit Kondomen, an denen sich jeder bedienen kann [...]. Suns Mitarbeiter schwärmen in jene Wohngebiete aus, in denen die Wanderarbeiter leben, verteilen Broschüren, erklären, wann und wo Abtreibungen vorgenommen werden und welche Strafen bei Verstößen gegen die Ein-Kind-Regel verhängt werden. In Shanghai kostet ein zweites Kind drei Jahresgehälter, das ist mehr, als ein Wanderarbeiter sich leisten kann. Wer Sun Changmin besucht, merkt schnell, dass der Führung die Familienplanung immer noch ein ernstes Anliegen ist. Gerade erst hat der Beamte selber eine Kollegin verloren, sie wurde zum zweiten Mal schwanger und musste gehen. Wer beim Staat arbeitet, verliert automatisch seinen Job. Aber hat der Staat nicht längst ganze Arbeit geleistet? Die Geburtenrate Shanghais liegt doch unter dem weltweiten Schnitt. Sun macht ein trauriges Gesicht. Er erzählt, dass die jüngeren Menschen das Leben in großen Familien, jahrtausendelang ein chinesisches Ideal, nicht mehr kennen. Moderne chinesische Paare planen ganz selbstverständlich „ihr Kind“ und reden davon, wie sie „ihr Kind“ erziehen werden – als sei ein einsamer Nachkomme biologisches Gesetz. In Shanghai kommen 79 Prozent aller Erwachsenen im fortpflanzungsfähigen Alter mittlerweile selbst aus einer EinKind-Familie. Sun sieht selbst, dass die von ihm durchgesetzte Ein-Kind-Politik inzwischen von gestern ist. „Wir müssten eigentlich wie in Deutschland Geld an die jungen Eltern zahlen, damit sie mehr Kinder bekommen“, sagt er. Sun war früher Forscher an der Akademie für Sozialwissenschaften von Shanghai und hat dort die Folgen der Ein-KindPolitik untersucht. Er erwartet für China dieselben Probleme, die heute das völlig überalterte Japan beschäftigen, wo die Wirtschaft nicht mehr wächst und der Immobilienmarkt schrumpft. Sun hat in einer Eingabe an die Zentralregierung gebeten, die Ein-Kind-Politik – zumindest für bestimmte Regionen und vorübergehend – auszusetzen. Vergeblich. [...] Beendete China nun seinen demografischen Sonderweg, würde der Staat viel Macht über seine Bürger verlieren. Doch auch den Menschen selbst sind höhere Geburtenraten unheimlich geworden, obwohl die dem Land inzwischen guttun würden. Seit Jahrzehnten sind die Chinesen daran gewöhnt, in der Bevölkerungsmasse etwas Schlechtes zu sehen. [...] Wer in China in die U-Bahn steigt, hat zwischen all den fremden Ellbogen noch immer das Gefühl: zu viele Menschen hier. [...] In China sorgt man sich um die „kleinen Prinzen“, also die verwöhnten Einzelkinder, denen es im Erwachsenenalter angeblich an Sozialkompetenz fehlen wird. Deshalb können Kleinkinder jetzt in Kursen mit Gleichaltrigen spielen. Der Andrang ist gewaltig, wie bei deutschen Kindertagesstätten melden sich die Eltern schon während der Schwangerschaft an, um später einen Platz zu bekommen. Sie fürchten, dass ihre Einzelkinder zu introvertierten Stubenhockern werden oder dass sie später keinen Gemeinsinn haben. Chinesische Mittelschichts-Eltern wollen ihren Kindern alles Erdenkliche bieten. Gerade weil es so wenige gibt. [...] Ein Instrument oder eine Fremdsprache im Vorschulalter zu erlernen ist heute fast Standard. Wer es sich leisten kann, bringt sein Kind zum Gehirntraining, in Shanghai können Kinder sogar einen „Baby-MBA“ erwerben, mit Unterrichtsfächern wie „Personal Finance“. Im Hilton Shanghai lernen Kinder ab fünf Jahren in Wochenendseminaren das Kochen – gegen einen vierstelligen Euro-Betrag. Angelika Köckritz und Elisabeth Niejahr, Die Einsamkeit der Vielen, in: Die Zeit Nr. 46, 8. November 2012, S. 17 19 1. Fassen Sie zusammen, wie die Ein-Kind-Politik in China konkret umgesetzt wird. 2 Kreatives Schreiben: Verfassen Sie entweder eine Eingabe an die Zentralregierung, in der Sie begründet das Aussetzen der Ein-Kind-Politik verlangen, oder ein Antwortschreiben der Zentralregierung, in dem Sie das Gesuch auf Aussetzung begründet ablehnen. 3. Überlegen Sie, welche Vorund Nachteile eine Gesellschaft der Einzelkinder mit sich bringen kann. Fertigen Sie hierzu eine aussagekräftige Mindmap an. i Eine Gesellschaft der kleinen Prinzen? Foto von Alain Buu, Peking 2007. In einem Park nahe dem alten Kaiserpalast fotografiert ein Elternpaar seinen einzigen Sohn. Er trägt ein Kostüm aus der Kaiserzeit. 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60N u r zu P rü fz w e k e n E ig e tu m d e s C . . B u c h n r V e rl a g s | |
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