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Und drinnen waltet die züchtige Hausfrau … 21 Es liegt daher im Interesse nicht nur der Frauen, sondern auch der Männer und des menschlichen Fortschrittes im weitesten Sinne, dass die Emanzipation der Frauen, welche die moderne Welt sich oft rühmt bewirkt zu haben und welche mitunter auf Rechnung der Zivilisation, mitunter auf jene des Christentumes gesetzt wird, nicht auf der Stufe stehenbleibe, auf der sie sich jetzt befindet. Harriet Taylor Mill, S. 154f. Eine Kulturwende? Der französische Politiker und damalige Direktor des Internationalen Währungsfonds (IWF) Dominique Strauss-Kahn wurde 2011 kurz vor dem Abflug nach Paris in New York festgenommen. Der Vorwurf: Er soll in seiner Hotelsuite versucht haben, ein 32-jähriges Zimmermädchen zu vergewaltigen. Strauss-Kahn bestritt den Vorwurf. Die Staatsanwaltschaft bekam später Zweifel an der Glaubwürdigkeit des mutmaßlichen Opfers; die Anklage wurde fallen gelassen. Josef Joffe schrieb 2011 zu dem Fall Folgendes: Was hat Dominique Strauss-Kahn gemeinsam mit Effi Briest, Madame Bovary und Anna Karenina? Die schlichte Antwort: den sündigen Sex. Die interessantere Antwort hat mit der Schuldfrage zu tun. Seit Evas Zeiten hatte immer das Weib die Schuld, und so auch in diesen drei Klassikern des 19. Jahrhunderts. Doch nun dramatisiert der Fall DSK eine historische Kulturwende. Effis doppelt so alter Mann vernachlässigt die 17Jäh rige, sie nimmt sich einen jungen Offizier. Der Gatte tötet ihn im Duell, lässt sich von Effi scheiden und nimmt ihr das Kind weg. Sie wird geächtet und verstoßen. Emma Bovary bricht mit gleich zwei Liebhabern aus ihrer langweiligen Ehe aus, und beide lassen sie fallen. Zum Schluss schluckt sie Arsen und stirbt einen qualvollen Tod. Die Tochter landet in ei ner Baumwollspinnerei. Auch Anna Kareninas Ehebruch mit Graf Wronskij nimmt kein gutes Ende. Um ihren Sohn nicht zu verlieren, will sie sich nicht von ihrem Mann scheiden las sen. Sie verfällt dem Wahn und stürzt sich vor ei nen Zug. […] Die Bürde der Wohlanständigkeit lag also auf den Schul tern der Frauen. Die Männer, eher die Verführten als die Verführer, leisteten allenfalls Beihilfe. Die gerechte Strafe ist Selbsttod oder Bannfluch. Wie M4 35 40 1 Verfasse einen kurzen erläuternden Bildkommentar. ➜ M1 2 Beschreibe das Verhältnis Mann und Frau im 19. Jahr hundert. ➜ M2 3 Setze dich mit der Auffassung Harriet Taylor Mills aus einander, dass weder Mann noch Frau nur ein Mittel für die Zwecke des jeweils anderen sein soll. ➜M3 4 Erkläre, inwiefern Emanzipation zum Vorteil beider Ge schlechter dienen kann. ➜ M3 5 Antworte in einem Leserbrief auf den Zeitungsartikel, in dem du zu der These Stellung nimmst, dass früher „die unbändige Sexualität der Frau“, heute „der überschießende Lustund Machttrieb des Mannes“ ins Verderben führt. ➜ M4 6 Erörtere, inwiefern Männer und Frauen zu allen Zeiten Opfer eines vorherrschenden Sittenkodex werden können. ➜ M4 Glossar: Emanzipation nun der Fall DSK zeigt, hat sich die Schuldzuweisung um 180 Grad gedreht. […] Um die Welt ging das Bild des elendigen Schurken, dem die Schuld aus jeder Pore quoll. Es fehlte nur noch der Strick, der einst dem Delinquenten um den Hals gelegt wurde, bevor sie ihn zum Galgen schleppten. Alles klar. War es nicht. Die amerikanische Justiz hat sich an ders als das Gros der veröffentlichten Meinung etwas mehr Zeit für die Recherche genommen, und siehe da: Das Zimmermädchen ist offenbar mit krimineller Energie vorgegangen, sei’s als Treibende oder Getriebene. Mag sein, dass DSK salviert ist oder doch verurteilt wird, aber das tut hier nichts zur Sache. Es zählt der fast universelle Reflex, der die Schuldzuweisung inzwischen umgedreht hat. Früher, bei Effi und Kolleginnen, war’s die unbändige Sexualität der Frau, die ins Verderben führte; heute ist es der überschießende Lustund Machttrieb des Mannes. Ein gewaltiger Kulturwandel, der sich im Westen in unzähligen Gesetzen über properes Sexualverhalten niederschlägt. Sie gelten zwar beiden Geschlechtern, treffen aber in der Praxis die Männer – so wie früher die Emmas und Annas die Opfer des vorherrschenden Sittenkodex waren. Ist es aber auch ein moralischer Fortschritt, wenn die Reflexe bloß die Seiten wechseln? nach Josef Joffe. In: Die Zeit,07.07.2011 A u fg a b e n 30 35 40 45 50 5 10 15 20 25 Experteng Nu r z u Pr üf zw ck n Ei ge nt um d es C .C . B uc h r V rla gs | |
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