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Lerntipp 129 M 2 „Soldaten! Soldaten!“ Tilman Röhrig erzählt, was der 15-jährige Jockel im Oktober 1641 erlebt. Jockel öffnete die Fäuste, legte die Hände zu einem Trichter vor den Mund und brüllte: „Soldaten!“ Der Schrei stach ihm wie eine Spitze in den Kopf. „Soldaten!“ Und wieder: „Solda ten!“ So hetzte er in die Richtung des Kirchturms. „Soldaten! Soldaten!“, brüll ten jetzt auch die anderen und folgten ihm. […] Aufgeschreckt stürzten die Bewohner von Eggebusch aus den Stuben, aus den Türen, durch die engen Straßen. „Wo?!“ – „Noch nicht!“ – „Aber in der Nähe!“ Kinder weinten, Männer brachten Sensen und Dreschfl egel, und Frauen bewaffneten sich mit Stöcken. Jetzt erreichten auch Jockel und Tobias den Dorfbrunnen. Soldaten! Die Rufe eilten aus allen Richtungen und vereinigten sich auf dem Marktplatz. Das Entsetzen in diesem Wort war immer wieder neu. Außer Veit kannte niemand in Eggebusch ein Schlachtfeld. Niemand außer ihm hatte je die vielen Tode der Landsknechte* gesehen – fl üchtige durch den Zufall, quälende im langen Kampf. Hier in Eggebusch waren die Soldaten unverwundbar. Geld wurde den Truppen kaum bezahlt. Von ihren Kriegsherren erhielten sie Dörfer und Städte als Sold. Sie mussten sich selbst versorgen. Der kleine Ort bedeutete für die Söldner nur eine der tausend Vorratskammern, die sie plünderten und zerstörten. Hier galt nur ihr Hunger, ihre Gier. Der Dorfvogt** war auf seinen Karren gestiegen. Um ihn herum drängten sich die wenigen Menschen, die der jahrelange Krieg noch übrig gelassen hatte. Fünfzig abgezehrte Gesichter, die Kinder mitgezählt. Mit ausgestrecktem Arm zeigte er über die fl achen Hügel nach Osten. „Drüben am Fluss. Die Reitertrupps sind schon da. Sie schlagen ein Lager auf. Es sind unsere!“ „Unsere!“ Der Vater von Jockel, Christoph Markart, spuckte das Wort auf den Boden. „Gott steh uns bei!“ – „Herr, erbarme dich unser!“, fl ehten Stimmen aus der Gruppe. In Eggebusch wusste niemand mehr, zu wem sie gerade gehörten; es war gleich gültig: Lager ten drüben am Fluss Schweden, Branden bur ger, Italiener, Kaiserliche – die anderen oder die Unseren – sie plünderten und mordeten, zerrissen die Orte und Menschen mit großen Bissen wie Wölfe. […] „Früher war jedes Haus in Eggebusch bewohnt“, erzählte seine Großmutter. „Damals vor dem Krieg …“, und ihre Stimme klang dann so, als erzähle sie ein altes Märchen. Tilman Röhrig, In 300 Jahren vielleicht, Würzburg 91999, S. 20-21 und 23 * Landsknecht: Bezeichnung für einen in „kaiserlichen Landen“ geworbenen Söldner ** Dorfvogt: Ortsvorsteher Verdichtete Wirklichkeit Für sein Jugendbuch „In 300 Jahren vielleicht“ von 1983 hat Tilman Röhrig Literatur und Quellen zum Dreißigjährigen Krieg ausgewertet. Die Personen und die Handlung seiner Erzählung hat er aber frei gestaltet. Alles könnte sich so abgespielt haben, wie er es beschreibt. Allerdings lässt sich nicht eindeutig erkennen, wo er auf nachprüfbaren Tatsachen aufbaut und wo nicht. Obwohl seine Geschichte also keine Quelle ist, können wir sie als historische Darstellung lesen. Röhrigs Buch veranschaulicht uns den Kriegsalltag: Wir sollen uns in die Menschen hineinversetzen, ihr Denken, ihre Gefühle und ihr Handeln verstehen. Leitfragen Wenn wir uns mit einem historischen Jugendbuch beschäftigen, können wir von diesen Fragen ausgehen: • Wer steht im Mittelpunkt? Steht sie/er für eine Gruppe oder Schicht? • Wie entwickelt sich die Person im Laufe der Handlung? Wie sieht sie andere Menschen, ihre Umwelt und die Politik? Wie wird sie von ihnen beeinfl usst? • Wie verknüpft die Autorin/der Autor die tatsächlichen Ereignisse mit der von ihr/ihm erfundenen Handlung? • Erfahren wir, woher sie/er ihr/sein historisches Wissen hat? Finden sich im Text zeitgenössische Quellen? • Gelingt es der Autorin/dem Autor, uns ein anschauliches Bild der Ereignisse zu vermitteln? Ein Jugendbuch beurteilen M 1 Umschlag der Taschenbuch ausgabe 2010. 5 10 15 20 25 30 35 40 1. Informiere dich über den Schriftsteller Tilman Röhrig. 2. Bearbeite den Textauszug (M 2) nach dem Leitfaden des Lerntipps. 3. M 2 erläutert die „Kriegsfi nanzierung“. Prüfe mit dem Lehrbuchtext, ob die Darstellung korrekt ist. 4492_1_1_2013_110_133.indd 129 28.02.13 15:01 Nu r z u Pr üf zw ck en Ei ge nt um d es C .C .B ch ne r V er la s | |
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