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M6 Thesen zur europäischen Integration Im Jahre 2002 formuliert der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt (*1918) Thesen zur politischen Bedeutung der EU: 1) Die Nationen Europas stehen im 21. Jahrhundert vor neuartigen Herausforderungen. Diese entspringen einer in der Geschichte einmalig schnellen Vermehrung der auf der Erde lebenden Menschen und einer sich anbahnenden globalen Klimaveränderung. Beide Prozesse bergen in sich die Tendenz zu regionalen und lokalen Kriegen sowie zu massenhaften Wanderungsströmen in Richtung Europa und Nordamerika. Außerhalb Europas werden alte und neue Weltmächte mit Vehemenz danach streben, die Folgen globaler Gefährdungen auf andere abzuwälzen. Die gleichzeitige Globalisierung der Finanzmärkte gefährdet die ökonomische und politische Selbstbestimmung einzelner Staaten. Die technologische Globalisierung gefährdet Arbeitsplätze und Wohlstand in Europa. 2) Die europäischen Nationalstaaten werden einzeln, jeder für sich allein, diesen Herausforderungen nicht gewachsen sein. Zu ihrer Selbstbehauptung ist eine Bündelung der Kräfte notwendig. In diesem Sinne wird die Europäische Union zu einer Notgemeinschaft. […] 6) Dabei sind die am Beginn des Integrationsprozesses und in den darauf folgenden Jahren maßgebenden strategischen Prinzipien festzuhalten, nämlich – in historischer Reihenfolge – erstens die politische und ökonomische Abwehr sowjetischer und kommunistischer Bedrohung, zweitens die Einbindung Deutschlands in den politischen und wirtschaftlichen Zusammenhang der europäischen Demokratien und drittens das Prinzip des gemeinsamen ökonomischen und sozialen Vorteils durch den gemeinsamen, offenen Markt. Das erste dieser drei Prinzipien hat seinen Gegenstand weitgehend verloren, es erscheint als obsolet. Das zweite Prinzip und das dritte Prinzip bleiben wichtig, sie werden in der Union allgemein bejaht und verfolgt. Jetzt tritt als zusätzliches strategisches Motiv die Notwendigkeit gemeinsamer Selbstbehauptung hinzu, das heißt das Prinzip der vollen Handlungsfähigkeit der Europäischen Union nach außen. […] 9) […] Doch braucht die EU für die Zukunft eine eigene Finanzaußenpolitik, nicht nur gegenüber dem Weltwährungsfonds, sondern auch, um die ökonomisch gewichtigen Staaten der Welt zu einer gemeinsamen Ordnung auf den globalen Finanzmärkten zu bewegen – einschließlich einer funktionierenden Aufsicht über verantwortungslos spekulierende Finanzhäuser. 10) Die Amerikaner haben außerordentliche Ver dienste um den Wiederaufbau in Europa und in der Abschreckung sowjetischer Drohung. Seit dem Verschwinden der Sowjetunion hat das Verhältnis der USA und ihrer politischen Klasse zu Europa jedoch an Eindeutigkeit verloren. […] Für die Zukunft ist kaum zu erwarten, dass Washington eine weitere Stärkung der EU mit Zustimmung begleiten wird. Die EU wird sich bemühen müssen, ihre außenpolitische und strategische Abhängigkeit von Amerika schrittweise zu verringern, gleichwohl aber die Partnerschaft des Verteidigungsbündnisses aufrechtzuerhalten. […] 12) Die Herstellung einer gemeinsamen Außenund Sicherheitspolitik wird durch die geplante Erweiterung der EU1 zusätzlich erschwert werden. Gleichwohl ist die Aufnahme einer Reihe von Staaten im Osten Mitteleuropas aus moralischen Gründen der Solidarität sowie aus geopolitischen Gründen geboten. Sie sollte schrittweise erfolgen, um eine Überforderung der EU zu vermeiden. Sie sollte keinesfalls vor der Vollendung der jetzt anstehenden Struktur reform der EU beginnen, denn dadurch würde die ohnehin diffi zile Reform noch zusätzlich erschwert. […] 14) Die Union ist kein Staat. Sie ist deshalb auch kein Bundesstaat, sie sollte auch keiner werden wollen. Sie ist jedoch auch kein klassischer Staatenbund. Nach ihrer Aufgabenstellung und nach ihren Strukturen ist die EU etwas völlig Neues, ein dynamisches Unikat, das im Begriff ist, seine Aufgaben zu verändern und zu erweitern. Dabei darf die EU die Nationalstaaten nicht aushöhlen. Der Nationalstaat ist – und bleibt für lange Zeit – der bei Weitem wichtigste Ankergrund für die politische Selbstidentifi kation der Bürger Europas. Deshalb müssen die Organe der EU und vor allem das Parlament ihre Aktivitäten endlich dem Subsidiaritätsprinzip2 unterwerfen […]. Helmut Schmidt, Die Selbstbehauptung Europas. Perspektiven für das 21. Jahrhundert, München 22004, S. 239 ff. 1. Arbeiten Sie die historischen und gegenwärtigen Motive der europäischen Einigung heraus. 2. Erläutern Sie, welche weltpolitischen Veränderungen der letzten Jahre eine gemeinsame Außenund Sicherheitspolitik der Europäer notwendig machten. Bewerten Sie diese Einschätzung. 1 Gemeint ist die EU-Erweiterung von 2004 („Osterweiterung“), mit der die Länder Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn und Zypern der EU beitraten. 2 Der EG-Vertrag Artikel 3b sieht vor, dass die Gemeinschaft nur tätig wird, wenn ein Ziel auf europäischer Ebene besser erreicht wird als auf der Ebene der einzelnen Mitglieds staaten. 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75 103Überwindung nationalistischer Konfrontation im Zuge der europäischen Einigung nach 1945 Nu r z u Pr üf zw ec ke n Ei ge tu m d es C .C .B uc hn er V rla gs | |
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