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178 „Volk“ und „Nation“ im Deutschen Kaiserreich Der „Berliner Antisemitismusstreit“ Der konservative Historiker Heinrich von Treitschke löste im November 1879 mit seinem Aufsatz „Unsere Aussichten“ eine rassistisch und nationalistisch aufgeladene Kontroverse über die Stellung von Juden im Deutschen Kaiserreich aus. Sie erreichte ihren Höhepunkt, als ihm der liberale Historiker Theodor Mommsen im Dezember 1880 öffentlich widersprach. Neben Mommsen wiesen unter den Akademikern kaum Nichtjuden öffentlich Treitschkes antisemitische Aussagen zurück. Stattdessen sprachen viele Bürger Juden die kulturelle Zugehörigkeit zur deutschen Nation ab. Durch die Debatte wurden antisemitische Ideen in bildungsbürgerlichen Kreisen salonfähig. M1 „Judenfrage“ Der Professor für Geschichte in Berlin, Heinrich von Treitschke (1834 1896), ist ein bekannter Historiker seiner Zeit. Er gehört dem Reichstag bis 1878 als Abgeordneter der nationalliberalen Partei, später als parteiloses Mitglied an. Mit seinem Aufsatz „Unsere Aussichten“ eröffnet er im November 1879 den „Berliner Antisemitismusstreit“: [D]er Instinkt der Massen hat in der Tat eine schwere Gefahr, einen hochbedenklichen Schaden des neuen deutschen Lebens richtig erkannt; es ist keine leere Redensart, wenn man heute von einer deutschen Judenfrage spricht […]. Was wir von unseren israelitischen Mitbürgern zu fordern haben, ist einfach: sie sollen Deutsche werden, sich schlicht und recht als Deutsche fühlen – unbeschadet ihres Glaubens und ihrer alten heiligen Erinnerungen, die uns Alten ehrwürdig sind; denn wir wollen nicht, dass auf Jahrtausende germanischer Gesittung ein Zeitalter deutsch-jüdischer Mischkultur folge. Es wäre sündlich zu vergessen, dass sehr viele Juden, getaufte und ungetaufte […], deutsche Männer waren im besten Sinne, Männer, in denen wir die edlen und guten Züge deutschen Geistes verehren; es bleibt aber ebenso unleugbar, dass zahlreiche und mächtige Kreise unseres Judentums den guten Willen, schlechtweg Deutsche zu werden, nicht hegen […]. Kaum war die Emanzipation1 errungen, so bestand man dreist auf seinem „Schein“, man forderte die buchstäbliche Parität2 in Allem und Jedem und wollte nicht mehr sehen, dass wir Deutschen denn doch ein christliches Volk sind und die Juden nur eine Minderheit unter uns […]. Bis in die Kreise der höchsten Bildung hinauf, unter Männern, die jeden Gedanken kirchlicher Unduldsamkeit oder nationalen Hochmuts mit Abscheu von sich weisen würden, ertönt es heute wie aus einem Munde: Die Juden sind unser Unglück! Die harten deutschen Köpfe jüdisch zu machen, ist doch unmöglich; so bleibt nur übrig, dass unsere jüdischen Mitbürger sich rückhaltlos entschließen, Deutsche zu sein, wie es ihrer Viele zu ihrem und unserem Glück schon längst geworden sind. Die Aufgabe kann niemals ganz gelöst werden. Eine Kluft zwischen abendländischem und semitischem Wesen hat von jeher bestanden; […] es wird immer Juden geben, die nichts sind als deutsch redende Orientalen […]. Aber der Gegensatz lässt sich mildern, wenn die Juden, die so viel von Toleranz reden, wirklich tolerant werden und einige Pietät3 zeigen gegen den Glauben, die Sitten und Gefühle des deutschen Volks, das alte Unbill längst gesühnt und ihnen die Rechte des Menschen und des Bürgers geschenkt hat. Dass die Pietät einem Teile unseres kaufmännischen und literarischen Judentums vollständig fehlt, das ist der letzte Grund der leidenschaftlichen Erbitterung von heute […]. Gebe Gott, dass wir aus der Gärung und dem Unmut dieser ruhelosen Jahre eine strengere Auffassung vom Staate und seinen Pfl ichten, ein gekräftigtes Nationalgefühl davontragen. Zitiert nach: Karsten Krieger (Bearb.): Der „Berliner Antisemitismusstreit“ 1879 1881. Eine Kontroverse um die Zugehörigkeit der deutschen Juden zur Nation. Kommentierte Quellenedition, Bd. 1, München 2004, S. 6 16 (stark gekürzt) M2 „Glücklicherweise stehen die Sachen anders“ Der in Breslau lehrende jüdische Historiker Heinrich Graetz antwortet Treitschke am 7. Dezember 1879 in der „Schlesischen Presse“: Sie haben im Novemberheft der Preußischen Jahrbücher in einem politischen Artikel auch eine nur wenig in Baumwolle gewickelte Angriffswaffe gegen die Juden in Deutschland geschwungen. Ihr Artikel ist im Grunde nach gewissen nicht missverständlichen Wendungen eine Anklage gegen die 3 Pietät: Rücksichtnahme 5 10 15 20 25 30 35 40 45 5 1 Emanzipation: bezeichnet die Befreiung aus gesellschaftlicher Abhängigkeit; hier die rechtliche Gleichstellung von jüdischen zu christlichen Bürgern, die mit der Gründung des Deutschen Kaiserreiches für alle deutschen Länder galt 2 Parität: Gleichberechtigung 4677_1_1_2015_158-183_Kap5.indd 178 17.07.15 12:26 Nu r z u Pr üf zw ck en Ei ge nt um d s C .C .B uc hn r V er la gs | |
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