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210 Politische und ideologische Voraussetzungen des Nationalsozialismus M1 „Nicht unser Staat“ Der sozialdemokratische Reichstagspräsident Paul Löbe berichtet in seinen 1949 veröffentlichten Lebenserinnerungen von der parlamentarischen Arbeit nach 1930: Einige Jahre konnte der Reichstag wieder ordnungsgemäß arbeiten. Als aber 1930 das deutsche Volk 107 Nationalsozialisten neben 77 Kommunisten […] entsandte und 40 deutschnationale Hugenbergianer1 ihre schützende Hand über die Nazis hielten, brach der Sturm aufs Neue los. Äußerste Rechte und äußerste Linke warfen sich die Bälle zu, unterstützten gegenseitig ihre Obstruktionsanträge2, begleiteten die jeweiligen Schimpfkonzerte ihrer Antipoden mit tosendem Beifall und versuchten durch unsinnige und demagogische Anträge die Arbeit des Parlaments und der Regierung lahmzulegen. […] Bei einer Reichshaushaltsberatung stellten die Kommunisten eine Reihe von Anträgen, unsympathische Steuern und Abgaben aufzuheben oder herabzusetzen, sodass bei Annahme dieser Anträge die Reichseinnahmen von zehn Milliarden auf sechs vermindert worden wären. Bei dem Ausgabenetat kamen dann so viel populäre Anträge auf Rentenerhöhungen, Wohnhausbauten, Erweiterung des Kreises der Versorgungsberechtigten, dass die Ausgaben des Etats von zehn auf 14 Milliarden steigen mussten. Als ich den kommunistischen Wortführer fragte, woher die Mittel für eine solche Wirtschaft kommen, wie das Defi zit von acht Milliarden gedeckt werden sollte, erwiderte er kaltschnäuzig, darüber könne sich ja die Regierung den Kopf zerbrechen, „es ist ja nicht unser Staat, sondern der eure“. Genauso unehrlich war die Taktik der nationalsozialistischen Fraktion. Sie beantragte, dass niemand im Reich mehr als tausend Mark Monatseinkommen beziehen sollte, dachte aber gar nicht daran, selbst diesen Grundsatz zu befolgen, sondern wollte mit solch demago gischen Anträgen nur die anderen Parteien in Verlegenheit bringen […]. Zitiert nach: Günter Schönbrunn (Bearb.), Weltkriege und Revolutionen, München 51995, S. 249 1. Fassen Sie zusammen, wie Radikale von links und rechts die parlamentarische Arbeit beeinfl ussten. 2. Erörtern Sie, welche Wirkung diese Art der parlamentarischen Arbeit auf die Öffentlichkeit haben musste. M2 Verfassungspläne Noch als Reichskanzler stellt der ehemalige Zentrumspolitiker Franz von Papen am 12. Oktober 1932 bayerischen Industriellen folgende Pläne vor: Wir wollen eine machtvolle und überparteiliche Staatsgewalt schaffen, die nicht als Spielball von den politischen und gesellschaftlichen Kräften hinund hergetrieben wird, sondern über ihnen unerschütterlich steht […]. Die Reform der Verfassung muss dafür sorgen, dass eine solche machtvolle und autoritäre Regierung in die richtige Verbindung mit dem Volke gebracht wird. An den großen Grundgesetzen […] soll man nicht rütteln, aber die Formen des politischen Lebens gilt es zu erneuern. Die Reichsregierung muss unabhängiger von den Parteien gestellt werden. Ihr Bestand darf nicht Zufallsmehrheiten ausgesetzt sein. Das Verhältnis zwischen Regierung und Volksvertretung muss so geregelt werden, dass die Regierung und nicht das Parlament die Staatsgewalt handhabt. Als Gegengewicht gegen einseitige, von Parteiinteressen herbeigeführte Beschlüsse des Reichstags bedarf Deutschland einer besonderen Ersten Kammer mit fest abgegrenzten Rechten und starker Beteiligung an der Gesetzgebung. Heute ist das einzige Korrektiv gegen das überspitzte parlamentarische System und gegen das Versagen des Reichstags die Verordnungsgewalt des Reichspräsidenten aufgrund des Artikels 48 der Reichsverfassung.* Sobald aber wieder stetige und normale Verhältnisse herrschen, wird auch kein Anlass mehr sein, den Artikel 48 in der bisherigen Weise anzuwenden. […] Nichts kann das Vertrauen in den Aufstieg der Nation mehr hindern als die Unstabilität der politischen Verhältnisse, als Regierungen, die nur Treibholz sind auf den Wellen der Partei und abhängig von jeder Strömung. Diese Art der Staatsführung der Parteiarithmetik ist im Urteil des Volkes erledigt. Zitiert nach: Heinz Hürten (Hrsg.), Weimarer Republik und Drittes Reich 1918 1945, Stuttgart 1995, S. 132 ff. 1. Skizzieren Sie das Regierungssystem, das Papen einführen will. 2. Der 1. Artikel der Weimarer Verfassung lautet: „Das Deutsche Reich ist eine Republik. Die Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ Untersuchen Sie, in welchem Verhältnis die Überlegungen Papens zu den Bestimmungen der Weimarer Verfassung stehen. 1 Alfred Hugenberg (1865 1951): Medienunternehmer, von 1928 bis 1933 Vorsitzender der DNVP 2 Obstruktion: Verschleppung, Verhinderung 1 Zu Artikel 48 der Reichsverfassung siehe S. 114. 5 10 15 20 25 30 5 10 15 20 25 30 4677_1_1_2015_184-217_Kap6.indd 210 17.07.15 12:06 Nu zu Pr üf zw ck en Ei ge nt um de s C .C .B uc hn er V er la s | |
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