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238 Die Herrschaft des Nationalsozialismus in Deutschland und Europa Polen abzuholen. Sie nahm in dem Moment Veronal1, starb einen Tag später im jüdischen Krankenhaus, ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben. […] Durch welche Ver änderung ist es eigentlich möglich geworden, aus einem im Durchschnitt gutmütigen und herzlichen Menschenschlag solche Teufelsknechte zu formen? Das spielt sich in einem kaltbürokratischen Vorgang ab, bei dem der Einzelne schwer zu greifen ist, Zecken, die sich in den Volkskörper einsaugen und plötzlich ein Stück von ihm geworden sind. Der Metteur2 Büssy erzählt mir heute beim Umbruch, dass sich in seiner Gegend am Rosenthaler Platz die Arbeiterfrauen zusammengerottet und laut gegen die Judentransporte protestiert hätten. Bewaffnete SS mit aufgepfl anztem Bajonett und Stahlhelm holte Elendsgestalten aus den Häusern heraus. Alte Frauen, Kinder, verängstigte Männer wurden auf Lastwagen geladen und fortgeschafft. […] Schließlich kam ein neues Aufgebot SS und zerstreute die Protestierenden, denen sonst nichts weiter geschah.3 In unserem Viertel sieht man so etwas nie. Hier werden die Juden des Nachts geholt. […] Wie schnell haben wir uns alle an den Anblick des Judensterns gewöhnt. Die meisten reagieren mit vollkommener Gleichgültigkeit, so wie ein Volontär, der neulich zu mir sagte: „Was interessieren mich die Juden, ich denke nur an meinen Bruder bei Rshew4, alles andere ist mir völlig gleichgültig.“ Ich glaube, das Volk verhält sich anständiger als die sogenannten Gebildeten oder Halbgebildeten. Typisch dafür ist die Geschichte von dem Arbeiter, der in einer Trambahn einer Jüdin mit dem Stern Platz machte: „Setz dir hin, olle Sternschnuppe“, sagte er, und als ein PG5 sich darüber beschwerte, fuhr er ihn an: „Üba meenen Arsch verfüge ick alleene.“ Ursula von Kardorff, Berliner Aufzeichnungen. Aus den Jahren 1942 bis 1945, München 1962, S. 36 f. 1. Beschreiben Sie, wie die nichtjüdische Bevölkerung auf die Judenverfolgung reagierte. 2. Kardorff versucht, ein „Täterprofi l“ zu erstellen. Erläutern Sie ihre Aussagen. bevor, wenn einmal, was Gott verhüten möge, einer anderen Fahne die Hakenkreuzfahne weichen muss!!! Dann bleibt dieselbe Beamtenschaft auch wieder am Ruder, beziehungsweise Futterkrippe, und schreit laut den Jubelruf der Gegenseite, so wie sie 1933 auch den Deutschen Gruß von heute auf morgen lernte, Motto: Wer mir zu fressen gibt, den liebe ich. Zitiert nach: Hans Mommsen und Susanne Willems (Hrsg.), Herrschaftsalltag im Dritten Reich, Düsseldorf 1988, S. 438 f. 1. Bestimmen Sie den politischen Standort des Schreibers. 2. Erläutern Sie nach diesem Bericht die Position der „alten Ordnungsmacht“, der Polizei im NS-Staat. 3. Bewerten Sie die Aussagen des Hausbesitzers über die politische Mentalität der Beamtenschaft. M5 „Vollkommene Gleichgültigkeit“ Ursula von Kardorff ist in den Kriegsjahren Redakteurin bei der Berliner „Deutschen Allgemeinen Zeitung“. Am 3. März 1943 notiert sie in ihrem Tagebuch: Frau Liebermann ist tot. Tatsächlich kamen sie noch mit einer Bahre, um die Fünfundachtzigjährige zum Transport nach 40 i Brennende Synagoge in Essen am 10. November 1938. p Recherchieren Sie, was mit der Synagoge an Ihrem Wohnort geschah. 5 10 15 20 25 30 35 1 Veronal: starkes Schlafmittel 2 Metteur: alte Bezeichnung für Schriftsetzer 3 Zum Protest in der Berliner Rosenstraße vgl. S. 267. 4 Rshew: russische Stadt, etwa 200 km westlich von Moskau 5 PG: Parteigenosse; Mitglied der NSDAP 4677_1_1_2015_218-275_Kap7.indd 238 17.07.15 12:07 N r z u Pr üf zw ec k Ei ge nt um d es C .C .B uc hn V er la gs | |
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