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236 Die Herrschaft des Nationalsozialismus in Deutschland und Europa M1 „Recht ist, was dem Volke nützt“ Hans Frank, Sohn eines Rechtsanwalts aus Karlsruhe, ist bereits seit Anfang der 1920er-Jahre Unterstützer der NSDAP. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wird er von April 1933 bis Dezember 1934 als „Reichskommissar für die Gleichschaltung der Justiz in den Ländern und für die Erneuerung der Rechtsordnung“ tätig. Von 1933 bis 1942 ist er Präsident der Akademie für deutsches Recht (1933 1942), ab Dezember 1934 bis zum Kriegsende hat er zudem den Posten eines Reichsministers ohne Geschäftsbereich inne. Nach seiner Ernennung zum Generalgouverneur der besetzten Gebiete von Polen (Generalgouvernement) im Oktober 1939 organisiert er u. a. die Deportation der polnischen Juden in die Ghettos. 1936 äußert sich Frank zur Funktion der Gerichte im Führerstaat: 1. Der Richter ist nicht als Hoheitsträger des Staates über den Staatsbürger gesetzt, sondern er steht als Glied in der lebendigen Gemeinschaft des deutschen Volkes. Es ist nicht seine Aufgabe, einer über der Volksgemeinschaft stehenden Rechtsordnung zur Anwendung zu verhelfen oder allgemeine Wertvorstellungen durchzusetzen, vielmehr hat er die konkrete völkische Gemeinschaftsordnung zu wahren, Schädlinge auszumerzen, gemeinschaftswidriges Verhalten zu ahnden und Streit unter Gemeinschaftsgliedern zu schlichten. 2. Grundlage der Auslegung aller Rechtsquellen ist die nationalsozialistische Weltanschauung, wie sie insbesondere in dem Parteiprogramm und den Äußerungen unseres Führers ihren Ausdruck fi ndet. 3. Gegenüber Führerentscheidungen, die in die Form eines Gesetzes oder einer Verordnung gekleidet sind, steht dem Richter kein Prüfungsrecht zu. […] 4. Gesetzliche Bestimmungen, die vor der nationalsozialistischen Revolution erlassen worden sind, dürfen nicht angewendet werden, wenn ihre Anwendung dem heutigen gesunden Volksempfi nden ins Gesicht schlagen würde. […] 5. Zur Erfüllung seiner Aufgaben in der Volksgemeinschaft muss der Richter unabhängig sein. Er ist nicht an Weisungen gebunden. Unabhängigkeit und Würde des Richters machen geeignete Sicherungen gegen Beeinfl ussungsversuche und ungerechtfertigte Angriffe erforderlich. Deutsches Recht, 6. Jg. (1936), S. 10 1. Veranschaulichen Sie die Begründung der nationalsozialistischen Rechtsauffassung in einer einem Verfassungsschema ähnelnden Grafi k. 2. Erörtern Sie die Konsequenzen dieser Rechtsauffassung für die Rechtspraxis. 3. Vergleichen Sie die dargestellte Rechtsauffassung mit derjenigen in der Bundesrepublik Deutschland. M2 „Jugendverführer“ Herbert R., der in einem Vorort von Hamburg gelebt hat, erzählt, wie die Gestapo 1935 in seinem Bekanntenkreis aktiv geworden ist. Das erste Opfer ist sein Chef: Als ich in die Firma kam, sah ich, wie er verhaftet und von zwei Kriminalbeamten abgeführt wurde. Jedermann wunderte sich über seine Verhaftung. Niemand wagte etwas zu sagen. Man wusste nicht weshalb, ob es politisch war, oder ob es möglicherweise wegen seiner Homosexualität war. Alle waren wie erstarrt von den Dingen, die einen überfi elen, wo man nicht wusste, was für eine Gefahr auf einen zukam. Dieser Druck in den folgenden Tagen und Wochen war wahnsinnig. […] Was in der Untersuchungshaft passiert ist, weiß ich nicht. Vierzehn Tage war er in Haft. Während dieser Zeit wurde er fast jeden Tag in seine Wohnung geführt, wo man alles zusammen mit ihm durchstöberte. Man ließ verlauten, dass er als „Jugendverführer“ keinen Betrieb mehr leiten dürfe. Diese Dinge, die da auf ihn eindrangen, sind wahrscheinlich so fürchterlich gewesen, dass er sich drei Wochen nach seiner Verhaftung im Gefängnis erhängt hat. Das war im Sommer 1935. Mit einem Schlage setzte eine Verfolgungswelle von Homosexuellen in unserem Orte ein. Als nächster wurde mein Freund verhaftet. […] Eines Tages erschienen bei ihm Leute von der Gestapo und holten ihn ab. Sich zu erkundigen, wo er geblieben sein könnte, war zwecklos. Wenn das jemand von uns getan hätte, dann hätte die Gefahr bestanden, dass man ihn gleich dabehielt, weil er ein Bekannter war, der auch verdächtigt wurde. An der Schule, wo er unterrichtet hatte, war man entsetzt. Man kannte zwar seine politische Einstellung, aber niemand wusste, dass er homosexuell war, und ich konnte es ihnen nicht sagen. Nach seiner Verhaftung wurde seine Wohnung von Gestapo-Beamten durchsucht. Bücher wurden mitgenommen und besonders Notizbücher und Adressbücher beschlagnahmt, in der Nachbarschaft herumgefragt, und da hieß es: Da kommen immer nur junge Leute hin. Die Notizund Adressbücher waren das Schlimmste. Alle, die darin vorkamen und mit ihm zu tun hatten, wurden festgenommen oder zur Gestapo zitiert. […] Hans-Georg Stümke, Vom „unausgeglichenen Geschlechtshaushalt“. Zur Verfolgung Homosexueller, in: Projektgruppe für die vergessenen Opfer des NS-Regimes in Hamburg e. V. (Hrsg.), Verachtet – verfolgt – vernichtet – zu den „vergessenen“ Opfern des NS-Regimes, Hamburg 1986, S. 49 1. Untersuchen Sie die Reaktionen der beteiligten Personen und nehmen Sie dazu Stellung. 2. Erläutern Sie die Arbeit der Gestapo und ihre Methoden der Machtausübung. 5 10 15 20 25 5 10 15 20 25 30 35 4677_1_1_2015_218-275_Kap7.indd 236 17.07.15 12:07 Nu r z P rü fzw ck en Ei en tu m d es C .C .B uc hn er V er la gs | |
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