Volltext anzeigen | |
290 Vergangenheitspolitik und „Vergangenheitsbewältigung“ Wandel in der Bundesrepublik Die dritte „Phase der Vergangenheitsbewältigung“ (Norbert Frei), dauerte vom Ende der 1950erbis zum Ende der 1970er-Jahre und setzte sich in der Bundesrepublik deutlich von den vorherigen Phasen ab. Langsam setzte ein Umdenken ein. Orte des NS-Terrors, etwa frühere Konzentrationslager wie Dachau, wurden zu Gedenkstätten, auch gewann der Nationalsozialismus in westdeutschen Lehrplänen, in der politischen Bildung, aber auch in der justiziellen Aufarbeitung zunehmend an Bedeutung. Die systematische Erforschung und Verfolgung von NS-Gewaltverbrechen begann erst seit 1958 mit der Gründung der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg (u M1). Eine breite Öffentlichkeit nahm Anteil an Großverfahren wie dem ersten Auschwitz-Prozess in Frankfurt am Main (1963 1965) und dem Majdanek-Prozess* in Düsseldorf (1975 1981). Erst diese Prozesse machten den Deutschen das ganze Ausmaß des Holocaust deutlich. Die Gerichtsverhandlungen der 1960er-Jahre stellten das in der westdeutschen Gesellschaft gängige Täterbild infrage und präzisierten die Vorstellungen von der Funktionsweise des nationalsozialistischen Regimes. Der Eichmann-Prozess 1961 in Jerusalem zeigte, dass nicht nur „eine kleine Clique um Hitler und Himmler“ und einzelne brutale „Exzesstäter“ oder „menschliche Randexistenzen“ für den Massenmord an den Juden Europas verantwortlich waren, sondern auch ein Heer unscheinbarer Bürokraten in einem breit gefächerten Institutionennetz, welches Eichmann koordinierte – ein „Verwalter, dessen Ressort das Morden“ war, wie „Die Zeit“ damals schrieb. Während sich in der DDR der ritualisierte antifaschistische Bezug auf den Nationalsozialismus nur in Nuancen wandelte und öffentliche Kontroversen ohnehin nicht möglich waren, spitzte sich in der Bundesrepublik in den 1960er-Jahren die Auseinandersetzung um die Vergangenheit zu. Dem Verschwiegenheitskomplott einer Gesellschaft, deren tragende Stützen immer noch Sechzigjährige waren, welche häufi g im Nationalsozialismus ihre Karriere begonnen hatten, trat eine neue Generation von Historikern, Journalisten, Juristen oder politisierter Bürger entgegen. Vieles wurde skandalisiert. Umgang mit der NS-Zeit von den 1950erbis 1970er-Jahren u Ortsbesichtigung im KZ Auschwitz. Foto vom 14. Dezember 1964. Die Mitglieder des Frankfurter Schwurgerichts und zahlreiche Journalisten passieren das Lagertor des Konzentrationslagers Auschwitz im Rahmen des Auschwitz-Prozesses. Am 20. Dezember 1963 wurde in Frankfurt am Main der Prozess gegen 22 ehemalige Bewacher des Lagers eröffnet. Internettipp: Für Informationen zum Frankfurter Auschwitz-Prozess siehe Code 4677-28 Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen: Sie nahm ihre Arbeit am 1. Dezember 1958 auf und ermittelte systematisch zu nationalsozialistischen Verbrechen, die jenseits der alten Reichsgrenzen an Zivilisten und in den KZ begangen wurden, da die bundesdeutschen Staatsanwaltschaften und Gerichte für in ihrem Bezirk begangene Straftaten oder dort lebende Täter zuständig waren. Ab 1964 wurde ihre Zuständigkeit auf das Bundesgebiet erweitert. Schon 1959 leitete die „Zentrale Stelle“ den Staatsanwaltschaften 400 Vorermittlungen, teilweise mit hunderten Beschuldigten, zu. * Majdanek: Vorort von Lublin (Polen), bei dem die Nationalsozialisten ein Vernichtungslager einrichteten. Es existierte von Herbst 1941 bis Juli 1944; etwa 200 000 Menschen kamen in Majdanek zu Tode, vgl. S. 261. 4677_1_1_2015_276-311_Kap8.indd 290 17.07.15 12:09 Nu r z u Pr üf zw ec ke n Ei ge nt um d e C .C .B uc hn er V er la gs | |
![]() « | ![]() » |
» Zur Flash-Version des Livebooks |