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352 Nationale Identität unter den Bedingungen der Zweistaatlichkeit in Deutschland Nur ein Staat vertritt das deutsche Volk? Aus der Tatsache der vom Ost-West-Konfl ikt beherrschten Teilung Europas und der Welt zog Bundeskanzler Adenauer die Konsequenz einer politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Westorientierung der jungen Bundesrepublik. Der freie und ökonomisch attraktive westliche Teilstaat sollte aus einer Position der Stärke eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf die Deutschen im sowjetischen Herrschaftsbereich ausüben (Magnettheorie). Die eigene Überlegenheit würde langfristig eine Wiedervereinigung „in Frieden und Freiheit“ ermöglichen, wobei ein künftiges demokratisches Gesamtdeutschland unwiderrufl ich mit dem Westen verbunden bleiben sollte. Die Bundesrepublik verstand sich als „Limes des Abendlandes“ gegenüber einer als gefährlich eingeschätzten Sowjetunion. Bereits im Oktober 1949 hatte Bundeskanzler Adenauer das Prinzip formuliert, das der Deutschlandpolitik aller Bundesregierungen bis 1969 zugrunde lag: „Die Bundesrepublik Deutschland ist allein befugt, für das deutsche Volk zu sprechen.“ Dieser von sämtlichen demokratischen Parteien geteilte Alleinvertretungsanspruch und die strikte Nichtanerkennung des nicht frei gewählten DDR-Regimes bestimmten und begrenzten die Beziehungen Bonns zu Ost-Berlin zwei Jahrzehnte lang (u M1). Ihre Haltung fasste die Bundesregierung 1955 in den Grundsatz, die Bundesrepublik unterhalte keine Beziehungen zu Staaten, die die DDR durch Aufnahme diplomatischer Beziehungen anerkannten (Hallstein-Doktrin). Bis zum Ende der 1960er-Jahre konnte die Bundesregierung damit die internationale Anerkennung der DDR verhindern, zumal in den Ländern der „Dritten Welt“, denen die Bundesrepublik andernfalls ihre Wirtschaftshilfe aufkündigte. Die Sowjetunion und Polen musste die Bundesrepublik allerdings von dieser Vorgehensweise ausnehmen. Sozialistisches Gesamtdeutschland oder Abgrenzung? Umgekehrt nahm die SED für sich in Anspruch, mit der DDR „die Grundlage eines neuen, unabhängigen und freien gesamtdeutschen Staates geschaffen“ zu haben. Die DDR galt als das Modell für ein künftiges sozialistisches Gesamtdeutschland. In der Praxis überwog allerdings das Ziel der Absicherung der eigenen Herrschaft durch Abgrenzung gegenüber der Bundesrepublik. Mit der Einführung einer DDR-Staatsbürgerschaft 1967 und der ein Jahr später in Kraft gesetzten neuen „sozialistischen Verfassung“ betonte Ulbricht seine Abgrenzungspolitik. Die DDR-Hymne von 1949 durfte wegen des Passus „Deutschland, einig Vaterland“ in der ersten Strophe nicht mehr gesungen werden. Bis weit in die 1960er-Jahre gab es keine offi ziellen Kontakte zwischen der Bundesrepublik und der DDR. Seit 1952 intensivierte die SED Sperrmaßnahmen und schikanierende Personenkontrollen an der innerdeutschen Grenze. 1961 kam der Sportverkehr zum Er liegen. Nur der innerdeutsche Handel überstand den Kalten Krieg. Der Warenverkehr zwischen beiden Ländern verneunfachte sich von 1950 bis 1974. Für die Bundesregierung war der Handel lange eine der letzten Klammern zwischen beiden Teilen Deutschlands. Er verbesserte die Versorgung der DDR-Bevölkerung und bewahrte Reste der Verfl echtung beider Volkswirtschaften. Wirtschaftlich von geringer Bedeutung, sicherte er den freien Zugang nach Berlin. Für die DDR war der innerdeutsche Handel hingegen ökonomisch unverzichtbar. Zwei Staaten – eine Nation? Standpunkte und Ziele der deutsch-deutschen Beziehungen Hallstein-Doktrin: benannt nach Walter Hallstein (1901 1982), 1951 1957 Staatssekretar im Auswärtigen Amt, 1958 1967 Präsident der Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) in Brüssel i „5 Jahre antifaschistischer Schutzwall.“ Foto aus Berlin vom 13. August 1966 (Ausschnitt). Betriebskampftruppen stehen vor einem Plakat mit einer Karikatur Ludwig Erhards Parade. Im Jargon der SED wurde die Berliner Mauer „antifaschistischer Schutzwall“ genannt. 4677_1_1_2015_312-361_Kap9.indd 352 17.07.15 12:13 Nu r z u Pr üf zw ec ke n Ei ge nt um d e C .C .B uc hn er V er la gs | |
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