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2498.4 Integrationsmodelle theoretisch fundiert – Integrationstheorien im Vergleich Die Ausgangslage bzw. die Grundbedingung für eine funktionale Entwicklung ist die transnationale Natur internationaler Probleme. Menschen und Güter überqueren die Grenzen und viele der politischen Aufgaben, die sich daraus ergeben – wie die Versorgung von Verkehrsmitteln mit Energie, die Bekämpfung bedrohlicher Krankheiten oder der Umweltverschmutzung – sind grenzüberschreitender Art. Daher muss für jedes dieser Probleme eine transnationale Lösung gefunden werden. Die Suche danach darf sich nicht von den überkommenen Vorstellungen von Macht und Territorium leiten lassen, sondern muss die spezifische Verknüpfung von Problem, Aufgabe und Funktion in einem bestimmten Sachbereich identifizieren. In diesem Funktionsbereich ergibt sich dann Art und Umfang der internationalen Zusammenarbeit sachlogisch aus der Aufgabenstellung. Integration ist im Funktionalismus ein Prozess, der die Entpolitisierung bzw. Entspannung von Konflikten und Gegensätzen durch die kontinuierliche Ausweitung der technischen Kooperation auf nicht kontroversen, funktionalen Gebieten erreicht. Die Integration beginnt deshalb dem Funktionalismus zufolge bei dem kleinsten gemeinsamen Nenner in einem beliebigen Kompetenzbereich. Durch den Erfolg der Zusammenarbeit oder durch die entstehenden technischen Möglichkeiten werden die Nationalstaaten dazu gebracht, auch auf weiteren funktionalen Gebieten gemeinschaftliche Lösungen zu suchen. […] [Hierdurch entsteht] ein fast unaufhaltsamer Sog in Richtung hin zu mehr Integration, der durch die Einbeziehung immer neuer Sachbereiche zu einem weiteren sektoralen Kompetenzund Souveränitätstransfer und damit zu einer gleichzeitigen Aushöhlung der nationalen Souveränität führt. Die Trennung zwischen den Staaten wird durch das zunehmend dichter werdende Geflecht von Beziehungen erodiert. Geographische Gegebenheiten und Regionen verlieren an Bedeutung und werden durch funktionale Organisationen für einzelne Sektoren ersetzt. […] Die Grundidee des klassischen Funktionalismus besagt folglich, dass die gemeinsame Wahrnehmung einer Reihe unkontroverser Funktionen und die Stärkung der technischen Eliten normalerweise der Weg ist, der zur Schaffung einer integrierten Gemeinschaft führt. Als Methode dient das Trial-and-error-Verfahren, nachdem nur in den Bereichen Integrationsfortschritte erzielt werden, in denen sich gerade die Möglichkeit für eine Einigung bietet. Aufbauend auf diesen funktionalistischen Grundgedanken formulierte der deutschamerikanische Politikwissenschaftler Ernst B. Haas in den 1950er Jahren den Neofunktionalismus. […] Die zentrale These von Haas ist das Konzept des spillover. […] Demnach wird eine einmal begonnene, erfolgreiche Zusammenarbeit in einem Funktionsbereich aufgrund der sachlogischen Verknüpfung mit anderen Aufgabenbereichen auch zur Integration in weiteren Sektoren führen. […] Wenn beispielsweise der Markt für Kohle und Stahl vergemeinschaftet wird, muss man sich zwangsläufig Gedanken über vereinheitlichte Transportbedingungen oder gemeinsame Sozialstandards der Arbeiter machen. Auf diese Weise kann ein anfangs auf wirtschaftliche oder technische Aspekte begrenzte Integration in den politischen Bereich „überschwappen“. Die Integration folgt einer „expansiven Logik“, einer Art Schneeball-Effekt an deren Ende eine supranationale „political community“ steht, deren genaue Struktur allerdings offen bleibt. Als Formel gilt: „form follows function“. Die institutionelle Gestalt folgt demnach der wirtschaftlichen oder politischen Aufgabe. Werner Weidenfeld, Die Europäische Union, München 2013, S. 55 f. 50 55 60 65 70 75 80 85 90 5 10 15 20 25 30 35 40 45 Transnational (trans = hinüber; lat.: natio = Volksstamm) Über die staatlichen Grenzen einer Nation hinaus Funktionalismus und Neofunktionalismus Spill-over-Effekt (spill over = überlaufen lassen) Übertragungseffekt Nu r z u Pr üf zw ec ke n Ei ge nt um d es C .C .B uc h er V er l gs | |
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