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Kompetenzen prüfen 405 Heribert Prantl: Wer in Deutschland arm ist Es ist eine bissige Debatte darüber entstanden, was „richtige“ Armut in Deutschland ist. Sie geht am Thema vorbei. […] Wie kann man Armut messen? An der Länge der Schlange vor den Geschäften, in denen es das billige Brot von gestern zu kaufen gibt? Oder ist der Mensch womöglich erst dann arm, wenn er in Mülltonnen wühlen muss? Ist also dann die Not derer, die jeden Cent dreimal umdrehen müssen und die samt ihren Kindern nur knapp irgendwie über die Runden kommen, keine richtige Not? […] Die neue Armutsdebatte ist eine hochpolitische Glaubwürdigkeitsdebatte. Sie wird ausgetragen zwischen denen, die Armut in Deutschland für ein aufgeblasenes Schreckensszenario halten, und denen, die die Realität aus täglicher Arbeit kennen. Deutschland ist ein reiches Land; trotzdem gibt es immer mehr Armut. Man sieht sie nicht, wenn man sie nicht sehen will. Schon vor Jahren hat ein Industriefunktionär am Rande einer Spendengala für Opfer einer Naturkatastrophe räsoniert, er könne angesichts des Elends anderswo das Gejammer über Armut hierzulande nicht mehr hören. Gewiss: Es stimmt, dass die deutschen Armen Krösusse wären in Kalkutta. Aber: Armut muss man beziehen auf die Gesellschaft, in der man lebt. Die deutschen Armen sind arm, weil sie ausgeschlossen sind aus einer Welt, die sich nur einigermaßen Situierten entfaltet. „Arm zu sein unter Armen mag vielleicht noch zum Aushalten sein. Arm zu sein unter protzenhaftem Reichtum – das ist unerträglich“. So stand es in einem Brief an den Münchner OB. Verglichen mit dem Elend in Mombasa oder Kalkutta sind deutsche Arme komfortabel ausgestattet. Sie verhungern nicht; Armut hierzulande ist selten eine Kalorienfrage. Aber daraus ergibt sich auch das Bittere für die Bedürftigen in Deutschland: Sie haben die Anerkennung ihrer Bedürftigkeit verloren. Deswegen kann so getan werden, als seien die Langzeitarbeitslosen an ihrer Situation selbst schuld. Deshalb können die relativ Armen als relativ faul diskreditiert werden. Warum ist das so? Es gibt politischen Überdruss an ihrer Not. Und es gibt das Bestreben, den Niedriglohnsektor im Exportland Deutschland zu erhalten. […] Armut heute hat viele Gesichter: da ist der Gelegenheitsarbeiter; der wegrationalisierte Facharbeiter; der arbeitslose Akademiker; da sind die schon immer zu kurz gekommenen am Rand der Gesellschaft; da ist die alleinerziehende Mutter, da sind die Einwandererkinder, die aus dem Ghetto nicht herausfinden; da sind Hartz-IV-Empfänger; da sind dreihunderttausend Obdachlose; und die neuen Alten, die Dementen, die zu wenig Hilfe erhalten. Im „neuen Unten“ bleiben die Leute für sich: netzwerkunfähig, vereinsamt. […] Armutsberichte stellen die Glaubwürdigkeit der Erfolgsmeldungen infrage – schwarze Null, sinkende Arbeitslosigkeit, hohes Steueraufkommen; [...]. Aber: Armut hört nicht auf, nur weil die Politik ihrer überdrüssig ist. Heribert Prantl, Debatte um Armut. Wer in Deutschland arm ist, www.sueddeutsche.de, 3.4.2015 5 10 15 20 25 30 35 II. Klausurtraining Aufgaben 1. Stellen Sie zwei Armutsbegriffe und zwei Probleme bei der Messung von Armut dar. 2. Analysieren Sie den Text im Hinblick auf die Position des Autors zur „Armutsdebatte“. 3. Erörtern Sie die Einschätzung von Prantl zur Armut in Deutschland. Erwartungshorizonte zu den Aufgaben 1 – 3 Mediencode: 72022-21 H Aufgabe 3 Berücksichtigen Sie das Kriterium „Gerechtigkeit“. Berücksichtigen Sie insbesondere das Zitat aus einem Schreiben an den Oberbürgermeister von München: „Arm zu sein unter Armen mag vielleicht noch zum Aushalten sein. Arm zu sein unter protzenhaftem Reichtum – das ist unerträglich“. Nu r z u Pr üf zw ec ke Ei ge nt um d es C .C .B uc hn er V er la gs | |
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