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Nils Mohl Tanzen gehen (2009) Er steht im Badezimmer vor dem Spiegel, öf net die oberen vier Knöpfe seines Hemdes, schiebt den Kragen des T-Shirts zur Seite und betrachtet die streichholzlange, strichartige Stelle zwischen Schlüsselbein und Brustwarze. Er berührt die Narbe und streicht sant mit den Fingern darüber hinweg. Die Narbe fühlt sich glatt an, ein bisschen wie Plastik. Wenn er dagegen drückt, verfärbt sie sich. In ein paar Monaten wird er sie vermutlich kaum noch wahrnehmen. Er hat eine ganz ähnliche Narbe am Kinn, seit über fünfzig Jahren schon, und eine viel größere am Unterschenkel. Überhaupt ist sein Körper voll von Narben. Die meisten sind für ihn inzwischen unsichtbar. Er beugt sich vor, betrachtet seine Augen im Spiegel. Die Pupillen weiten sich ein Stück, dann ziehen sie sich wieder zusammen. Er streicht den Kragen seines T-Shirts glatt, knöpt das Hemd zu, betätigt die Klospülung. Er hat die Toilette nicht benutzt. Die Klospülung betätigt er, weil er nicht möchte, dass seine Frau Verdacht schöpt . Gus Bloch schaltet das Licht aus und verlässt das Bad. Er weiß an diesem Samstag wenig mit sich anzufangen. Er könnte im Garten arbeiten, aber es nieselt draußen. Er könnte die Steuererklärung machen, er hat sich extra ein entsprechendes PCProgramm bestellt, und der Rechner läut auch, doch er ist mit den Gedanken irgendwie gerade woanders und biegt deshalb auch vom Flur nicht in Richtung Arbeitszimmer ab, sondern landet im Wohnzimmer. Ob er wieder vor dem Spiegel gestanden habe? Das ist die Frage, die Gus von Ella, seiner Frau, eigentlich erwartet, aber Ella sagt bloß: „Hier, Gus, der Sportteil.“ Ella sitzt am Wohnzimmertisch, vor ihr ausgebreitet liegt der Lokalteil der Tageszeitung. Hochzeitsanzeigen, Geburtsanzeigen, Todesanzeigen. Gus fragt sich stumm und wie immer ratlos, was seine Frau an dieser Art Bekanntmachungen wohl fi ndet. Was ist der Reiz? Wie kann man bloß so ausdauernd Namen, Daten und standardisierte Formeln studieren. „Eine Liza mit Zett“, murmelt Ella vor sich hin, „seltsam sieht das geschrieben aus, ganz ungewohnt.“ Gus nimmt den Sportteil zur Hand, setzt sich Ella gegenüber in den Sessel, liest aber nicht. Er blickt, die Zeitungsseiten auf den Knien, zu Ella und beobachtet, wie diese mit wachen Augen die Spalten mit den Hochzeitsund Geburtsanzeigen abfährt. Sie lacht des Öt eren leise auf oder quittiert hier und da einen ihrer Meinung nach allzu extravaganten Namen mit einem halb verblüt en, halb ironischen: „Wie kann man das seinem Kind nur antun?“ Um dann nach kurzer Pause meist auch noch ein „Also wirklich!“ oder „Ist das zu glauben?“ hinzuzufügen. Gus räuspert sich. Er sagt aber nichts. Ella blättert die Seite um. Das Zeitungspapier knistert. Gus fragt: „Warum schaust du dir das eigentlich immer an?“ 5 10 15 20 25 30 35 40 Der Schrit steller Nils Mohl wurde 1971 in Hamburg geboren. Für sein Buch „Es war einmal Indianerland“ erhielt er 2012 den Deutschen Jugendliteraturpreis. 63Am Leben sein – Erzählende Texte gestaltend interpretieren N u r zu P rü fz w c k e n E ig e n tu d s C .C . B u c h n e r V rl a g s | |
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