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1311.3 Mauerfall und „Wende“ in der DDR 1989 M6 Gründungsaufruf der Initiativgruppe „Neues Forum“ Der von 30 Personen unterzeichnete Gründungsaufruf der Initiativgruppe „Neues Forum“ trägt kein Datum. Bereits Anfang September 1989 haben ihn mehrere hundert Personen unterschrieben, Ende des Jahres über 200 000: In unserem Lande ist die Kommunikation zwischen Staat und Gesellschaft offensichtlich gestört. Belege dafür sind die weitverbreitete Verdrossenheit bis hin zum Rückzug in die private Nische oder zur massenhaften Auswanderung. […] In Staat und Wirtschaft funktioniert der Interessenausgleich zwischen den Gruppen und Schichten nur mangelhaft. Auch die Kommunikation über die Situation und die Interessenlage ist gehemmt. Im privaten Kreis sagt jeder leichthin, wie seine Diagnose lautet, und nennt die ihm wichtigsten Maßnahmen. Aber die Wünsche und Bestrebungen sind sehr verschieden und werden nicht rational gegeneinander gewichtet und auf Durchführbarkeit untersucht. Auf der einen Seite wünschen wir uns eine Erweiterung des Warenangebots und bessere Versorgung, andererseits sehen wir deren soziale und ökologische Kosten und plädieren für die Abkehr von ungehemmtem Wachstum. Wir wollen Spielraum für wirtschaftliche Initiative, aber keine Entartung in eine Ellenbogengesellschaft. Wir wollen das Bewährte erhalten und doch Platz für Erneuerung schaffen, um sparsamer und weniger naturfeindlich zu leben. Wir wollen geordnete Verhältnisse, aber keine Bevormundung. […] Um all diese Widersprüche zu erkennen, Meinungen und Argumente dazu anzuhören und zu bewerten, allgemeine von Sonderinteressen zu unterscheiden, bedarf es eines demokratischen Dialogs über die Aufgabe des Rechtsstaates, der Wirtschaft und der Kultur. Über diese Fragen müssen wir in aller Öffentlichkeit, gemeinsam und im ganzen Land, nachdenken und miteinander sprechen. […] Wir bilden deshalb gemeinsam eine politische Plattform für die ganze DDR, die es Menschen aus allen Berufen, Lebenskreisen, Parteien und Gruppen möglich macht, sich an der Diskussion und Bearbeitung lebenswichtiger Gesellschaftsprobleme in diesem Lande zu beteiligen. Für eine solche übergreifende Initiative wählen wir den Namen Neues Forum. Die Tätigkeit des Neuen Forums werden wir auf gesetzliche Grundlagen stellen. Wir berufen uns hierbei auf das in Art. 29 der Verfassung der DDR geregelte Grundrecht, durch gemeinsames Handeln in einer Vereinigung unser politisches Interesse zu verwirklichen. […] Allen Bestrebungen, denen das Neue Forum Ausdruck und Stimme verleihen will, liegt der Wunsch nach Gerechtigkeit, Demokratie und Frieden sowie Schutz und Bewahrung der Natur zugrunde. Es ist dieser Impuls, den wir bei der kommenden Umgestaltung der Gesellschaft in allen Bereichen lebensvoll erfüllt wissen wollen. Wir rufen alle Bürger und Bürgerinnen der DDR, die an der Umgestaltung unserer Gesellschaft mitwirken wollen, auf, Mitglieder des Neuen Forums zu werden. Die Zeit ist reif. Charles Schüddekopf (Hrsg.), „Wir sind das Volk!“ Flugschriften, Aufrufe und Texte einer deutschen Revolution, Reinbek 1990, S. 29-31 1. Arbeiten Sie die Ziele des Neuen Forums heraus. 2. Überlegen Sie, weshalb die Gruppe sich als Initiative bezeichnet und keine Partei gründet. 3. Vorschlag für ein Referat: Die Bürgerbewegungen in den Ostblockstaaten im Verlauf der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts – Gemeinsamkeiten und Unterschiede. M7 Die Stunde der Bürgerbewegungen Mit eigenen Aufrufen wenden sich zwischen August und Oktober 1989 auf Betreiben einiger Bürgerrechtler weitere Ini tiativbewegungen an die Menschen in der DDR. Sie werben für ihre politischen Ziele und die Mitwirkung an einer Reform der DDR. Sie gehen dabei ein hohes Risiko ein, weil die SED keine Vereinigungen und Initiativen außerhalb ihres Machtbereiches duldet und bisher entsprechende Gruppen stets als Staatsfeinde verfolgt hat. Der erste Aufruf der Bürgerbewegung „Demokratie Jetzt“ erscheint am 12. September 1989: Liebe Freunde, Mitbürgerinnen, Mitbürger und Mitbetroffene! Unser Land lebt in innerem Unfrieden. Menschen reiben sich wund an den Verhältnissen, andere resignieren. Ein großer Verlust an Zustimmung zu dem, was in der DDR geschichtlich gewachsen ist, geht durch das Land. Viele vermögen ihr Hiersein kaum noch zu bejahen. Viele verlassen das Land, weil Anpassung ihre Grenzen hat. Vor wenigen Jahren noch galt der „real existierende“ Staatssozialismus als der einzig mögliche. Seine Kennzeichen sind das Machtmonopol einer zentralistischen Staatspartei, die staatliche Verfügung über die Produktionsmittel, die staatliche Durchdringung und Uniformierung der Gesellschaft und die Entmündigung der Bürgerinnen und Bürger. Trotz seiner unbestreitbaren Leistungen für soziale Sicherheit und Gerechtigkeit ist es heute offenkundig, dass die Ära des Staatssozialismus zu Ende geht. Es bedarf einer friedlichen, demokratischen Erneuerung. […] Der Sozialismus muss nun seine eigentliche, demokratische Gestalt fi nden, wenn er nicht geschichtlich verloren gehen soll. Er darf nicht verloren gehen, weil die bedrohte Menschheit auf der Suche nach überlebensfähigen Formen mensch 5 10 15 20 25 30 35 40 45 5 10 15 20 32017_1_1_2016_Kap1_114-137.indd 131 04.05.16 10:38 Nu r z P üf zw ec ke Ei g nt um d e C .C . B uc hn er V rla gs | |
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