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Beispiel und Analyse 135 Joachim Gauck schreibt in seinen 2009 veröffentlichten Erinnerungen über den Herbst 1989: Bis zum Herbst 1989 war ich ein Pastor gewesen, der im kirchlichen Dienst aufging, dabei seinen Jugendlichen, seinen Gesprächskreisen und seiner Gemeinde im Gottesdienst die Wahrheit nicht schuldig blieb – das war in Rostock bekannt –, aber ich gehörte keiner außerkirchlichen Opposition an. Im Herbst 1989 wuchs ich Schritt für Schritt in eine politische Rolle hinein. Der Sturm hatte mich mitgenommen; nie waren wir aktiver als in diesen Wochen. Binnen Kurzem nannte mich eine Rostocker Zeitung „Revolutionspastor“ [...]. Rasend schnell breitete sich aus, was in Sachsen auf die Formel gebracht worden war „Wir sind das Volk“. Ich hörte in diesem Satz mit, was deren Erfi nder 1989 wahrscheinlich noch gar nicht im Kopf hatten. Mit der Ermächtigung der Vielen ging die Ermächtigung des Einzelnen einher. Wer einst nur als Staatsinsasse mit staatlich geregelter Eingangsund Ausgangsordnung aus dem Biotop gelebt hatte, erkannte nun seine Rechte, erklärte sich für zuständig. Die Losung war ein ernster Appell an den, der sie aussprach: Wenn du das Volk bist, also der Souverän, dann trägst du auch Verantwortung. „Wir sind das Volk“ sollte in jedem Klassenzimmer hängen. Gibt es einen schöneren Satz aus dem langen Kampf für Menschenund Bürgerrechte in diesem Land? Gehörte er nicht ins kollektive Gedächtnis der ganzen Nation? Damals wehte mit dem Satz aus Sachsen eine doppelte Botschaft über das Land: Den Einen bestritt sie das Recht zu herrschen, weil sie ohne Recht herrschten, die Anderen forderte sie auf, den nun offenen Raum zu betreten, die Macht, die auf der Straße lag, zu übernehmen, an das Recht zu binden und als frei gewählte Volksvertretung auszuüben. Auch Tausende von Parteimitgliedern der SED spürten die Kraft, die von der Losung ausging. Die neue Mündigkeit wirkte ansteckend. Viele einfache Parteimitglieder protestierten durch Austritt, sie wollten nicht länger Teil einer herrschenden Klasse sein, die als Gegner oder als Feind des Volkes agierte, andere waren ermutigt: Bald würden die reaktionären Bastionen der ideologischen Festung gestürmt, alte Kader gestürzt und sogar aus der Partei ausgeschlossen sein. Sicher wäre all dies auch ohne eine starke Losung geschehen, aber mit ihr ging es schneller und besser. Am Ende wurde aus unserer Protestbewegung eine Revolution. Das Oberste, was für alle Zeiten hatte oben sein wollen, wurde nach unten gekehrt. Ganz ohne Gewalt [...]. Revolution war bis dahin immer mit Gewalt verbunden gewesen. Viele sprechen daher lieber von einem Zusammenbruch, einem Kollaps, einer Implosion, einer Wende, zumindest von einer „friedlichen“, einer „samtenen“ oder einer „verhandelten“ Revolution im Osteuropa des Jahres 1989 [...]. All diese Einschränkungen ändern für mich nichts an der grundlegenden, eine Revolution kennzeichnenden Tatsache, dass eine staatliche Ordnung durch das Volk gestürzt und durch ein neues System ersetzt worden ist – auch wenn kein Blut fl oss und die Aufbegehrenden Transparente und Kerzen statt Waffen in den Händen hielten. Damals, im Herbst 1989, versuchten Partei und Staat noch, die Mobilisierung der Bevölkerung umzuleiten, die Menschen von der Straße wegund in institutionalisierte Bahnen zurückzulenken. Dialogveranstaltungen sollten die Unzufriedenheit auffangen und die Meinungsführerschaft der Partei wiederherstellen. Der stellvertretende Rostocker Bürgermeister erschien sogar in unserem Fürbittgottesdienst am 19. Oktober, um für eine derartige Veranstaltung am folgenden Tag in der Ostseehalle zu werben. Hätte die SED ein Jahr zuvor, etwa auf dem Kirchentag 1988 [...], auf die privilegierte Rolle der Partei verzichtet und einen Parteienpluralismus akzeptiert, wir Bürgerbewegte wären auf das Dialogangebot eingegangen. Jetzt sahen wir in den Herrschenden keinen Dialogpartner mehr, sondern nutzten die öffentlichen Diskussionen in der Sportund Kongresshalle, um sie zu delegitimieren. Joachim Gauck, Winter im Sommer – Frühling im Herbst. Erinnerungen, München 2009, S. 212 214 5 10 15 20 25 30 35 40 45 Einschätzung seiner bisherigen politischen Haltung Erklärung für sein wachsendes Engagement Bewertung der Losung „Wir sind das Volk“ Anders als bisher in der DDR zählt das Individuum Politische Rechte werden beansprucht, bringen aber auch Verantwortung für das gesellschaftliche Handeln mit sich. Zuordnung der Losung „Wir sind das Volk“ zu den Menschenund Bürgerrechten Signalwirkung der Losung Reaktionen einiger SED-Mitglieder Von der Protestbewegung zur Revolution Gewaltfreiheit als Merkmal Alternative Begriffe für die Vorgänge in der DDR Begründung für die Bezeichnung „Revolution“ Der „Dialogversuch“ der SED kommt zu spät und misslingt. Früheres Einlenken der SED hätte Gespräche mit der Opposition ermöglicht. Parteienpluralismus als Forderung „Delegitimierung“ der SED 32017_1_1_2016_Kap1_114-137.indd 135 04.05.16 10:38 Nu r z u Pr üf zw ck en Ei ge nt um es C .C . B uc hn er V er l gs | |
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