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63 M3 Was haben Arminius, Luther und die „Stunde Null“ gemein? Die Historikerin Heidi Hein-Kircher defi niert 2009 anlässlich des zweitausendjährigen Jubiläums der Varusschlacht in einem Aufsatz politische Mythen und ihre Funktion: Unter einem Mythos ist eine sinnstiftende Erzählung zu verstehen, die Unbekanntes oder schwer zu Erklärendes vereinfacht mit Bekanntem erklären will. Er entfl echtet schwer oder gar nicht erklärbare Vorgänge und stellt sie auf einfache Weise dar, wobei mythisches Denken auf einem Raster apriorischer Prämissen1 beruht. [...] Eine Gesellschaft besitzt daher zahlreiche, häufi g miteinander vernetzte und voneinander abhängige politische Mythen; zumeist bilden politische Mythen ein sich ergänzendes und aufeinander aufbauendes Mosaik, so ist der Arminiusmythos nicht ohne den im 19. Jahrhundert entstandenen Germanenmythos zu verstehen. [...] So gibt es Gründungsund Ursprungsmythen, Mythen [...] der Beglaubigung und Verklärung, wobei aber der politische Gründungs mythos letztlich eine alle anderen umfassende Kategorie ist, da jeder Mythos in seinem Kern über den Sinn und das Entstehen einer Gemeinschaft berichtet. Er behandelt eben nicht irgendeine Person oder irgendein Ereignis, sondern die Person, die nach der Interpretation des Mythos einen grundlegenden Beitrag zur Entstehung der Gemeinschaft oder des Gemeinwesens geleistet hat, das Schlüsselereignis, das zu deren bzw. dessen Gründung führte, oder den Raum, der wesentlich für die Defi nition des eigenen Territoriums ist. So thematisiert der Varusschlachtmythos den „Wendepunkt der Geschichte Europas“ [...], sodass er heute als Ausgangspunkt für das Werden Europas gesehen wird, während er im 19. Jahrhundert für die Identitätsbildung der deutschen Nation von fundamentaler Bedeutung war. In einem engen Zusammenhang steht eine andere Perspektive, nämlich der Blick auf die „Botschaft“ politischer Mythen. Sie behandeln einen Erfolg, Niederlage/Verlust und/oder Opfer, wobei Letztere auch im Sinne der historischen „Leistungsschau“ interpretiert werden. So resultiert die „Stunde Null“ aus der vernichtenden Niederlage Nazi-Deutschlands im Zweiten Weltkrieg. [...] Politische Mythen behandeln nur das, was für die jeweilige Gesellschaft konstitutiv2 und von Bedeutung ist. Diese im Mythos erzählten Bilder repräsentieren die Werte, Ziele und Wünsche einer sozialen Gruppe. Sie beglaubigen ihre grundlegenden Werte, Ideen und Verhaltensweisen, weil sie die historischen Vorgänge aus ihrer Sicht und in ihrem Sinne interpretieren, sodass diese durch die Erzählung einer geschichtlich wirksamen Einheit zu sammengebunden wird. Daher geben politische Mythen nationalen und nicht-nationalen (Massen-)Gesellschaften bzw. Gruppen Sinn, beispielsweise ist etwa der Mythos von „Luther auf der Wartburg“ prägend für protestantische Identität geworden. [...] Eine solche Identitätsbildung ist jedoch nur möglich, wenn zugleich eine Abgrenzung nach außen, zu anderen Gruppen hin, stattfi ndet. Auch dies wird durch Mythen geleistet, weil 1 apriorische Prämisse: vorherige Annahme 2 konstitutiv: bestimmend 5 10 15 20 25 30 35 40 45 i Zur Enthüllungsfeier des Hermannsdenkmals am 16. August 1875. Holzschnitt aus der Zeitschrift „Kladderadatsch“ vom 15. August 1875. Arminius und Martin Luther vor dem Petersdom „gegen Rom“. Arminius: „Ich habe gesiegt!“ Luther: „Ich werde siegen!“ p Erläutern Sie die Aussage des Holzschnitts. Warum werden hier Arminius und Luther „gegen Rom“ dargestellt? Recherchieren Sie dazu zum nationalen Luthermythos und zum „Kulturkampf“.Nu zu Pr üf zw ec ke n Ei ge tu m es C .C .B uc hn er V er la gs | |
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