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M Russlanddeutsche: angekommen In einem Zeitungsartikel analysiert Viktoria Morasch, die 1990 aus Kasachstan nach Deutschland gekommen ist, wie die Integration der Russlanddeutschen gelingen konnte: Wir kamen aus der Steppe […] aus Karaganda in Kasachstan. Dort hatten wir alles verkauft und verschenkt, die Bücher, das Hochzeitskleid meiner Mutter, die Datscha. Es war der Sommer 1990, und wir wollten weg. Ich war zwei Jahre alt. […] Heute, 25 Jahre später, werden wir als Teil einer gelungenen Integration gesehen, als Erfolgsgeschichte. […] Heute sagen die Statistiken: Wir Russlanddeutschen sind nicht häufi ger arbeitslos als die anderen Deutschen und auch nicht viel öfter kriminell. Der größte Schlagerstar des Landes ist eine mit altertümlichem Namen, wie nur wir sie haben […]: Helene. […] Meine Großeltern sprachen fl ießend Deutsch, einen altertümlichen Dialekt, aber immerhin. Meine Eltern verstanden vieles, konnten sich aber nicht ausdrücken. Meine Brüder und ich sprachen nur Russisch. […] Über Russlanddeutsche gab es vor allem Negatives zu lesen: Andere Werte, andere Denkweisen (FAZ), Das Kreuz mit den Aussiedlern (Spiegel), Viele Aussiedler halten Gewalt für normal (Frankfurter Rundschau). Die Brutalowelle rollt! (Focus). […] Alex sagt: Ich bin angekommen, als ich keine Angst mehr vor den Montagen hatte. Montags setzte sich die Klasse in einen Kreis, und die Lehrerin fragte: Na, was habt ihr am Wochenende gemacht? Alex hoffte immer, er würde nicht drankommen. Irgendwann verstand er die Antworten der anderen, dann lernte er sie auswendig. Dann, an einem Montag, sagte er, als die Lehrerin ihn fragte: Fahrradfahren. Das stimmte nicht, er hatte gar kein Fahrrad. Aber er war beruhigt und wusste, zur Not sagt er jeden Montag dieses eine Wort: Fahrradfahren. Juri sagt: Das läuft ja eher schleichend. Vielleicht war es der Moment, als ich in der vierten Klasse immer nach vorne geholt wurde, um Gedichte aufzusagen, weil mein Hochdeutsch das beste war. Ich hatte das aus dem Fernsehen … Um zu erklären, woher sie ihre Kraft nahm, sagt meine Mutter Dinge, die vielleicht jede gute Mutter dieser Welt sagen würde: „Ich dachte, je mehr ich mich anpasse, desto weniger müsst ihr euch schämen, desto schneller fühlt ihr euch zu Hause.“ […] Es ist die Urfrage der Integration: Wie viel Anpassung ist nötig, wie viel ist schädlich? […] Und ich erinnere mich an Familienfeste in unserem Garten, bei denen meine Mutter von Grüppchen zu Grüppchen ging und alle bat, nicht so laut zu reden, die Nachbarn sollten unser Russisch nicht hören. War dieses Versteckspiel der Preis für unsere Integration? Ist es das, was die deutsche Gesellschaft verlangt? Vielleicht ist auch alles nur eine Frage der Zeit. Migrationsforscher sagen, echte Integration gelingt erst in der zweiten Generation. Die Zeit, so ein banaler Faktor. […] Meine Mutter sagt: „Gerade weil so schlecht über uns geredet wurde, wollten wir beweisen, dass wir was können, dass wir tüchtige Menschen sind.“ Und sie durften sich beweisen. […] Das andere Viertel der Russlanddeutschen ist eine Hochhaussiedlung. Hier leben die sozial Schwächeren, die später kamen. […] Sie hatten es aus anderen Gründen schwer. Weil sie in einer Zeit kamen, in der die Arbeitslosigkeit relativ hoch war und die Integrationshilfen stark gekürzt wurden. Auch wir haben ein paar Jahre in einem dieser Hochhäuser gelebt, bevor meine Eltern ihr Haus bauten. Am Stadtrand, weit weg von allen. Auf diese beiden Viertel verteilen sich die meisten Russlanddeutschen, man könnte auch sagen, sie schotten sich ab. Aber das wäre zu negativ. Abschotten bedeutet ja nicht nur „Ghetto“, abschotten bedeutet auch Zusammenhalt. Und der ist besonders wichtig, wenn man gerade irgendwo ankommt, wo man fremd ist. Menschen wollen mit Menschen zusammenleben, die so sind wie sie selbst. Zitiert nach: Viktoria Morasch, Russlanddeutsche. Angekommen, in: Die Zeit, Nr. 16 vom 7. April 2016 (www.zeit.de/2016/16/russlanddeutsche-kasachstanintegration-sowjetunion-aussiedler, Zugriff vom 10.07.2016) 1. Listen Sie in einer Tabelle die Integrationsprobleme der Familie Morasch auf. 2. Begründen Sie, welche Faktoren zu einer gelungenen Integration geführt haben. 3. Formulieren Sie im Anschluss mögliche Nachfragen für das Interview. 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 i Die Autorin Viktoria Morasch mit ihren Eltern. Foto von Michael Herdlein von 2016. 19Integration! Integration? Nu zu P rü fzw ck en E ge nt um d s C .C Bu ch ne r V er la gs | |
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