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11Umgang mit Texten und Medien Sprachheimat Die Kaufhalle hieß jetzt Supermarkt, Jugendherbergen wurden zu Schullandheimen, Nickis zu T-Shirts und Lehrlinge Azubis. In der Straßenbahn musste man nicht mehr den Schnipsel entlochen, sondern den Fahrschein entwerten. Aus Pop-Gymnastik wurde Aerobic und auf der frisch gestrichenen Poliklinik stand eines Morgens plötzlich „Ärztehaus“. Die Speckitonne verschwand und wurde durch den grünen Punkt ersetzt. Mondos hießen jetzt Kondome, aber das ging uns noch nichts an. Statt ins Pionierhaus ging ich jetzt ins Freizeitzentrum, unsere Pionierleiter waren unsere Vertrauenslehrer und aus Arbeitsgemeinschaften wurden Interessengemeinschaften. In den Läden gab es alles aus der Reklame zu kaufen. Auf den Straßen saßen überall Hütchenspieler. Und Mitschüler, die vor der Wende in den Westen gemacht hatten, wie das damals hieß, tauchten plötzlich auf dem Schulhof auf, als seien sie nie weg gewesen, redeten so komisch betont und sahen aus wie aus der Medi&Zini. Zu den Fidschis durfte ich nicht länger Fidschis sagen, sondern musste sie Ausländer oder Asylbewerber nennen, was irgendwie sonderbar klang, waren sie doch immer da und zwischendurch nie weg gewesen. Für die Kubaner und die Mosambikaner hatte es kein Wort gegeben. Keins vorher und keins hinterher. Sie waren sowieso auf einmal alle verschwunden. Nicht anders als die Knastis, die die Flaschen und Gläser in den SERO-Annahmestellen entgegengenommen, nach Farbe und Größe sortiert und darauf aufgepasst hatten, dass wir abends nicht heimlich durch das Loch im Zaun in die großen Zeitschriftencontainer stiegen, um Westzeitschriften ihrer volkswirtschaftlich sinnvollen Zweitverwertung zu entreißen. Die Dinge hießen einfach nicht mehr danach,was sie waren.Vielleicht waren sie auch nicht mehr dieselben. Schalter hießenTerminals,Verpflegungsbeutel wurden zu Lunchpaketen, Zweigstellen zu Filialen, der Polylux zum Over head projektor und derTüröffner in der Straßenbahn zum Fahrgastwunsch. Assis zu sagen habe ich mir schnell abgewöhnt und Assikinder, mit denen wir in Lernpatenschaften Mathe und Rechtschreibung lernten und auf die wir ein Auge haben sollten,damit sie nicht geärgert wurden, […] die gab es auch nicht mehr. Die Olsenbande dagegen, über die wir uns an vielen Sonntagvormittagen in einer Art sozialistischer Kinderkinomatinée ohne Sekt für 35 Pfennig halb zu Tode gelacht hatten, die gab es noch; und genau das brachte mein Weltbild endgültig zum Einsturz: Generationen von Kindern hatten diesen leider ziemlich einfältigen Dänen bei ihren Taschenspielertricks zugesehen und geglaubt, die große Welt ließe sie, zumindest ein wenig, teilhaben und hätte sie nicht ganz vergessen. Als nach der Wende dann jedoch kein Mensch im Westen je von Egon, Benni und Kjeld gehört hatte, dafür aber jeder Karel Gott kannte, den Prager, von dem wir nun wirklich glaubten, er habe nur für uns Deutsch gelernt und gehöre uns, uns ganz allein, da verstand ich gar nichts mehr. Jana Hensel Zonenkinder 5 10 15 20 25 30 35 40 3 Aufgaben: Seite 15 Nu r z u Pr üf zw ec ke n Ei ge n um d es C .C . B uc h er V er la gs | |
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