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M3 Wer ist verantwortlich? In dem 1952 veröffentlichten dritten Band seiner Er innerungen versucht der ehemalige US-Präsident Herbert Hoover die Haltung seiner Regierung zu Beginn der Weltwirtschaftskrise zu erklären; er schreibt: Beim Zusammenbruch des Aktienmarktes im Oktober und November [1929] erhob sich sofort die grundsätzliche Frage, ob der Präsident und die staatlichen Organe es unternehmen sollten, die sich daraus ergebenden üblen Folgen zu mildern und Gegenmaßnahmen zu treffen. Kein Präsident war bis dahin auf den Gedanken gekommen, dass in solchen Fällen dem Staat irgendeine Verantwortlichkeit zufalle. Ganz gleich, wie dringend es bei früheren Gelegenheiten auch gewesen sein mochte, immer standen die Präsidenten unerschütterlich auf dem Standpunkt, die Bundesregierung habe mit solchen Ausbrüchen nichts zu tun; man hatte es solchen Eruptionen1 stets überlassen, sich auszutoben. […] Da es aufseiten der Regierung also an Erfahrungen fehlte, handelte es sich für uns um ein völliges Neuland. […] Ich möchte hier ausdrücklich noch einmal feststellen, dass es selbst Präsidenten nicht gegeben ist, in die Zukunft zu sehen. Wirtschaftsstürme entstehen nicht ganz plötzlich, aber sie ändern sich ohne Vorwarnung. In den drei Jahren der wirtschaftlichen Rückschläge und der Depression, mit denen ich zu tun hatte, änderten sie sich wiederholt zum Schlimmeren – und dies mit der Schnelligkeit eines Blitzes. Wir hätten manches besser machen können – wenn man es von heute her sieht. […] Wir von der Regierung betrachteten jedoch die nächste Zukunft mit größerer Sorge, teils weil wir die entsetzliche Kreditinfl ation am Aktienmarkt kannten und teils weil wir die zukünftige Entwicklung der europäischen Wirtschaft fürchteten. Vielleicht kannte ich aufgrund meiner Erfahrungen in Europa während des Jahres 1919 und meiner Kenntnisse der wirtschaftlichen Folgen des Versailler Vertrages die dortige Lage besser als viele andere. Bei der Besprechung innerhalb der Regierung entwickelten sich bald zwei gedankliche Hauptrichtungen. Zunächst gab es die Leute, die ihre Hände aus allem heraushalten wollten, unter Führung des Finanzministers Mellon2, der die Ansicht vertrat, man solle sich nicht einmischen und es dem Zusammenbruch überlassen, sich selber zu liquidieren3. Mr. Mellon verfügte nur über eine Formel: „Die Arbeiterschaft liquidieren, die Aktien liquidieren, die Farmer liquidieren, Immobilien liquidieren.“ Er behauptete, wenn die Menschen eine Infl ation als fi xe Idee in ihrem Hirn hätten, dann gäbe es nur eine Möglichkeit, sie ihnen auszutreiben: den Zusammenbruch. Er vertrat die Ansicht, dass selbst eine Panik alles in allem durchaus nichts Schlimmes sei, und sagte: „Sie vertreibt die Giftstoffe aus dem Organismus. Die hohen Lebenshaltungskosten fallen, und dem luxuriösen Leben wird ein Ende gesetzt. Die Menschen werden schwer arbeiten und ein moralischeres Leben führen. Die Werte werden einander wieder angeglichen, und tatkräftige Menschen nehmen den weniger Befähigteren die Trümmer aus der Hand.“ […] Die eigentliche Schwierigkeit bei ihm lag daran, dass er sich nicht davon abbringen ließ, man habe es hier mit einem der üblichen Rückschläge bei einer Hausse4 zu tun, und dass er die Lage in Europa nicht ernst nehmen wollte. Auch unterschätzte er, ebenso wie wir übrigen, die Schwäche unseres Banksystems. Herbert Hoover, Memoiren, Bd. 3: Die große Wirtschaftskrise 1929 1941, übersetzt v. Werner von Grünau, Mainz 1952, S. 33 35 1. Hoover schildert die politischen Überzeugungen des Finanzministers Mellon. Geben Sie dessen Position mit eigenen Worten wieder und fi nden Sie eine Bezeichnung für diese Art von Politik. 2. Memoiren dienen oft der Rechtfertigung. Arbeiten Sie die unterschiedlichen Strategien Hoovers heraus, mit der er seine Politik in der Wirtschaftskrise begründet. 3. Verfassen Sie einen Kommentar zu Hoovers Memoiren. Wählen Sie dafür die Sicht eines Farmers, der sein Land verloren hat, die Sicht eines damals arbeitslosen Industriearbeiters oder die Sicht eines Angehörigen einer der damals tätigen Hilfsorganisation. 1 Eruption: Ausbruch 2 Andrew W. Mellon (1855 1937): Bankier und von 1921 bis 1932 US-Finanzminister 3 liquidieren: aufl ösen 4 Hausse: starker, anhaltender Anstieg von Kursen für Wertpapiere und Waren; das Gegenteil einer Baisse 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 102 Ursachen und Folgen der Weltwirtschaftskrise 1929 4677_1_1_2015_090-127_Kap3.indd 102 17.07.15 11:42 Nu r z u Pr üf zw ck Ei ge nt u d s C .C .B uc h er V er la gs | |
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