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71 Eine Notlüge Unsere Straße ist ziemlich schmal. Sie liegt im Ostteil von Damaskus. [...] Die Dächer sind flach und fast gleich hoch (alle Häuser haben zwei Stockwerke), so kann man ohne Mühe von einem Dach zum anderen wandern. Ich erinnere mich noch, wie wir eines Tages beim Frühstück auf der Terrasse saßen, als plötzlich ein junger Mann vom Dach herunterschaute. Er wollte wissen, wo die Haustür sei. Meine Mutter zeigte sie ihm. Er sprang auf die Terrasse, von da aus rannte er zur Treppe und auf die Gasse hinaus. Meine Mutter holte gerade die Teekanne aus der Küche, als plötzlich zwei Polizisten auftauchten. „Hast du einen jungen Palästinenser gesehen?“, fragte der eine. „Einen Palästinenser? Nein! Schämt ihr euch nicht, einfach in die Häuser einzudringen! Hier sind Frauen und Kinder!“, rief sie wütend. Der Polizist entschuldigte sich, und beide machten kehrt. Ich staunte über meine Mutter, die weiter frühstückte, als sei nichts passiert. Am Nachmittag konnte ich meine Frage nicht mehr unterdrücken. „Warum hast du gelogen?“ „Der junge Mann sah sehr ängstlich aus. Er hat eine Mutter, und sie wird euch auch nicht anzeigen, wenn ihr vor der Polizei wegrennt!“, sagte sie. „Und woher willst du das wissen? Bist du sicher?“ „Ja, ich bin sicher. Ich bin eine Mutter.“ Sie lächelte und küsste mich auf die Stirn. Rafik Schami, S. 6-7 A4 Erarbeitet in Gruppen dieses Beispiel nach dem folgenden Schema: 1. Beschreibung der Situation 2. Gründe für die Lüge 3. Bewertung der Handlung 5 10 15 20 25 5 10 15 20 25 Muss man immer die Wahrheit sagen? Ferdinand ist verzweifelt: Ihm wurde sein neues Mountainbike gestohlen. Am Abend zuvor hatte er es vor dem Haus abgestellt und mit einem Bügelschloss gesichert. „Ist doch nicht so schlimm“, sagte der Vater, als Ferdinand ihn im Büro anrief. „Das Fahrrad ist mit in der Hausratsversicherung. Das müssten wir ersetzt bekommen. Deine Mutter soll gleich mal den Vertreter anrufen.“ Ferdinand fiel ein Stein vom Herzen. Jedoch nicht lange: Beim Telefonat mit der Versicherung erfuhr die Mutter, dass das Fahrrad eigentlich nur dann versichert ist, wenn es nachts nicht auf der Straße, sondern im Fahrradständer im Hof steht. Was sollten sie nun machen; wieder war Ferdinand am Boden zerstört. „So eine Unverschämtheit!“, schimpfte der Vater am Abend, als sie es ihm erzählten. „Das ist ja wieder mal typisch Versicherung. Da zahlt man jedes Jahr seine Beiträge, und wenn mal was passiert, steht im Kleingedruckten, dass sie dann nicht zahlen müssen. [...]“ Da schaltete sich die Mutter in das Gespräch ein: „Unser Versicherungsmann hat auch gleich gesagt, wir dürfen nur nicht schreiben, dass das Fahrrad draußen gestanden hat. Das muss man immer anders an geben, sagt er. Er schickt uns die Formulare und bei der Polizei waren wir ja schon.“ [...] Ferdinand war hin und her gerissen. Natürlich wollte er sein Mountainbike ersetzt haben, aber war das nicht ein Betrug, für den man sogar ins Gefängnis kommen konnte? Und außerdem eine Lüge, ohne echte Notsituation? Rainer Erlinger, Lügen haben rote Ohren, S. 145-146 A5 Ferdinand fragt seinen Onkel, ob man so etwas machen darf. Der meint, das geht auf keinen Fall. Findet Argumente, die der Onkel dem Vater ent gegensetzen könnte. Regeln und Normen 6645_1_4_2014_kap 2_layout 4 21.10.16 10:41 Seite 71 Nu r z u Pr üf zw ck en Ei g nt um d es C .C .B uc hn r V er la gs | |
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