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105Schreiben: Einen Prosatext gestaltend interpretieren Erlebte Zeitgeschichte Ich klopfte gegen die Scheibe. „Warum klopfst du gegen die Scheibe? Hör auf, gegen die Scheibe zu klopfen.“ Gerd lehnte sich zurück und mied meinen Blick, so sehr fürchtete er wohl, die Nerven zu verlieren. Ich klopfte gegen die Scheibe. „Hör auf.“ Ich klopfte zwei Mal, klopfte seinen Befehl nach. Er stöhnte, und ich wischte mit der flachen Hand über die Scheibe. „Wie lang sind die schon da drinnen?“, fragte ich und starrte auf das schwarze Fenster der Baracke. „Weiß nicht, ich hab nicht auf die Uhr gesehen, zwanzig Minuten vielleicht.“ „Länger.“ Gerd antwortete mir nicht, er rauchte. Seit der Mann in Polizeiuniform mit meinen Kindern verschwunden war, hatte sich die Tür kein einziges Mal geöffnet. […] Plötzlich klopfte etwas laut an die Scheibe, ich konnte nur die Faust sehen, kein Gesicht, eine Uniform, die Tür wurde geöffnet. Fast fiel ich dem Mann ent gegen. Er fing mich auf. „Muss man Sie bitten?“ „Wie?“ „Mitkommen“, un sanft griff der Beamte meinen nackten Oberarm und zog mich neben sich her. Ich stolperte über die flache Stufe. […] Nach links wurde ich in einen Raum gestoßen, wo man bereits auf uns zu warten schien. […] „Setzen. Sie reisen aus, um Herrn Gerd Becker zu heiraten?“ „Ja.“ „Sie beziehen eine gemeinsame Wohnung in West-Berlin, was?“ „Natürlich.“ „Und Ihr künftiger Mann hat schon alles eingerichtet, was? Wohnt schon länger in der Wohnung, was?“ Ich nickte zuversichtlich. „Natürlich, ja.“ Während der rechte der beiden die Vernehmung führte, blätterte sein Bruder in Akten, er schien etwas zu suchen. „Sagen Sie, das alles wurde doch schon in den Anträgen aufgenommen. Letzte Woche erst war ich bei der Staatssicherheit, da ging es ausschließlich um Herrn Becker.“ „So? Welche Vernehmung, Fräulein – Frau Senff. Nelly Senff. Sie waren schon verheiratet?“ „Nein, das wissen Sie doch.“ „Auch nicht mit dem Vater Ihrer Kinder?“ Ich schüttelte den Kopf. „Was?“ „Nein.“ […] „Frau Senff, was ich hier nicht verstehe, ist, warum packen Sie Zahnpasta und Seife ein, wenn Sie doch heute Abend in der Wohnung Ihres Zukünftigen ankommen – Ihrer beider gemeinsamen Wohnung. […] Hat er keine Seife? Ihr Verlobter Becker?“ Ich sah den Mann mit seiner nicht identifizierbaren Uniform an, spürte, wie mir das Blut in den Kopf schoss, und schloss meinen Mund. Die Zunge klebte am Gaumen. „Verschlägt Ihnen das die Sprache, Senff? Jetzt kommen Sie mal mit.“ Ich stand auf und folgte dem Einzigen durch einen schmalen Gang in einen anderen Raum. […] „Ausziehen.“ Wohlgefällig nickte mir der ältere Beamte zu. „Wie bitte?“ „Die Anziehsachen können Sie der Kollegin hier geben.“ Die Kollegin blickte mich stumpf an. […] „Warum soll ich mich jetzt ausziehen?“ „Wir stellen hier die Fragen, nicht Sie“, wiederholte der ältere Beamte und grinste mir aufmunternd entgegen. „Vor Ihnen?“ Wahrscheinlich lernten die 20 25 30 35 40 45 50 55 60 ➝ Nu r z u Pr üf z ec k n Ei ge nt um d es C .C . B uc hn er V er la gs | |
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