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97Schreiben: Einen Prosatext interpretieren Erlebte Zeitgeschichte Einen Prosatext interpretieren Eine Interpretation schreiben 1. Lesen Sie den Text von Max von der Grün und formulieren Sie in einem Satz einen spontanen Leseeindruck. Max von der Grün Kinder sind immer Erben Bisher glaubte ich, Mörder müsse man an ihren Händen erkennen, Massenmörder an ihren Augen. Ich weiß nicht, warum ich das glaubte, wahrscheinlich hatte sich aus den Kindertagen diese Annahme in mir festgesetzt. Mein Nachbar hatte die schönsten Augen, die ich je sah, und meine Frau, die gern in Bildern spricht, nannte seine Augen weinende Aquamarine1; seine Hände waren so schmal und wohl gepflegt, dass sie behüteten Frauenhänden glichen. Dann wurde mein Nachbar verhaftet. Meine Frau und ich sahen an einem Sonntagvormittag zwei grüne Autos vorfahren, Uniformierte und Zivilisten führten meinen Nachbarn aus dem Haus in einen der grünen Wagen. Das ganze Stadtviertel wusste am Abend davon. Am Montag darauf lasen wir in der Zeitung, der Verhaftete werde beschuldigt, an der Ermordung von 200 Geiseln in einem mährischen2 Dorf im Jahre einundvierzig beteiligt gewesen zu sein. Nein, sagte meine Frau. Nein! Nie! Nicht dieser Mann! Ich wollte es auch nicht glauben. Ich war sprachlos geworden und beschimpfte stumm die Zeitungsleute als Schmutzfinken. Dieser Mann? Er und seine Frau spielten jede Woche einmal bei uns Doppelkopf, wir zechten und waren fröhlich und fuhren manchmal übers Wochenende vor die Stadt in den Wald. Manchmal sprachen wir auch über Politik und er konnte sich über alles maßlos erregen, was auch nur den geringsten Anruch von Gewalt hatte.Waren wir bei ihnen eingeladen, konnten wir uns aufmerksamere Gastgeber nicht wünschen. Vor drei Jahren hatte sich mein Nachbar ein Auto gekauft, seitdem nahm er mich in die Stadt zur Arbeit mit, morgens und abends fuhr er einen Umweg von einem Kilometer durch die belebtesten Straßen der Stadt, nur damit ich nicht der Unannehmlichkeit ausgesetzt war, mit der Straßenbahn zu fahren. Ich hätte morgens eine halbe Stunde früher aufstehen müssen, abends wäre ich eine Stunde später nach Hause gekommen. Und dieser Mann, mit den Augen wie weinende Aquamarine, sollte nun ein Massenmörder sein? Aber, sagte meine Frau hilflos, er lebte doch nicht unter falschem Namen. Er lebte wie wir, er hat gearbeitet, schwer geschuftet für seine Familie. Er war doch ein herzensguter Mann. Und hast du mal gehört, wie er mit seinen Kindern sprach? Spricht so ein Mann, der so sein soll, wie jetzt in der Zeitung 1 Aquamarin: blauer Edelstein 2 Mähren: heute Teil von Tschechien 5 10 15 20 25 30 Max von der Grün (1926 –2005) ➝ Nu r z u Pr üf zw ec ke Ei g tu m d es C .C . B uc hn er V er la gs | |
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