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147 M1 „Homo migrans“ Der Historiker Klaus J. Bade erläutert die historische und aktuelle Bedeutung von Migration: Das Thema „Migration“ hat in Europa negative Hochkonjunktur. Den Hintergrund bilden weltweite Migrationsprobleme und europäische Ängste vor wachsendem „Wanderungsdruck“. Aktuelle Interessen führen auch zu Fragen an die Geschichte der Wanderungen in, aus und nach Europa; denn aktuelle Migrationsprozesse kann besser beurteilen, wer abgeschlossene – mithin historische – überblickt und die Entwicklungslinien kennt, an deren Ende die Probleme der Gegenwart stehen. […] Den „Homo migrans“ gibt es, seit es den „Homo sapiens“ gibt; denn Wanderungen gehören zur Conditio humana1 wie Geburt, Fortpfl anzung, Krankheit und Tod. Migrationen als Sozialprozesse sind, von Fluchtund Zwangswanderungen abgesehen, Antworten auf mehr oder minder komplexe ökonomische und ökologische, soziale und kulturelle Existenz und Rahmenbedingungen. Die Geschichte der Wanderungen ist deshalb immer auch Teil der allgemeinen Geschichte und nur vor ihrem Hintergrund zu verstehen. […] Raumbezogen kann man, trotz vieler Überschneidungen, z. B. Aus-, Einund Binnenwanderungen unterscheiden. Orientierungshilfe bietet auch die Frage nach Anlässen, Motiven und Zwecken. Dabei kann man z. B. wirtschaftlich und berufl ichsozial motivierte Migrationen eingrenzen und innerhalb dieses Feldes wiederum Erwerbsmigrationen als Existenznotwendigkeit (subsistence migration) oder als Verbesserungschance (betterment migration) unterscheiden. Durch Verlust bzw. Zerstörung der wirtschaftlichen Existenzgrundlagen, mithin letztlich ebenfalls wirtschaftlich bedingt, sind aber z. B. auch jene Überlebenswanderungen, für die das späte 20. Jahrhundert den Sammelbegriff „Umweltfl ucht“ geprägt hat. Von so motivierten Migrationen kann man wiederum religiös-welt anschaulich, politisch, ethno-nationalistisch oder rassistisch bedingte Fluchtbzw. Zwangswanderungen abgrenzen. Dazu zählen auch die Vertreibungen und Zwangsumsiedlungen des 20. Jahrhunderts, bei denen die Bewegung von Menschen über Grenzen häufi g die Folge der Bewegung von Grenzen über Menschen war. Klaus J. Bade, Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 2002, S. 12 f. 1. Geben Sie wieder, wie Klaus J. Bade den Begriff Migration erklärt. 2. Vergleichen Sie die Defi nition von Migration mit der jenigen von Jochen Oltmer (M2). 3. Arbeiten Sie die Bedingungen von Migration heraus. 4. Erörtern Sie anhand selbst gewählter Beispiele, ob sich die Aussagen Bades auch auf außereuropäische Gesellschaften und vormoderne Zeiten übertragen lassen. M2 Formen von Migration Der Historiker Jochen Oltmer benennt wichtige Merk male von Migration: Migration ist die auf einen längerfristigen Aufenthalt angelegte räumliche Verlagerung des Lebensmittelpunktes von Individuen, Familien, Gruppen oder auch ganzen Bevölkerungen. […] Unterscheiden lassen sich verschiedene Erscheinungsformen räumlicher Bevölkerungsbewegungen. Dazu zählen vor allem Arbeitsund Siedlungswanderungen, Bildungs-, Ausbildungsund Kulturwanderungen, Heiratsund Wohlstandswanderungen sowie Zwangswanderungen. […] Räumliche Bewegungen zur Erschließung oder Ausnutzung von Chancen strebten nicht ausschließlich nach einer Stabilisierung oder Verbesserung der ökonomischen und sozialen Lage von Zuwanderern im Zielgebiet. Wanderungszweck konnte gleichermaßen die Verbesserung der Situation in der Herkunftsgesellschaft sein, wie bei den saisonalen Arbeitswanderungen oder bei den Rückwanderungen nach Jahren oder Jahrzehnten der Erwerbstätigkeit in der Fremde. Eine ausgesprochen hohe Bedeutung haben bis in die Gegenwart für einzelne Haushalte, für regionale Ökonomien oder selbst für ganze Volkswirtschaften die mehr oder minder regelmäßigen Geldüberweisungen durch Migranten an zurückbleibende Familienmitglieder (Rücküberweisungen). Migration bildete in den genannten Kontexten ein Element der Lebensplanung und verband sich häufi g mit (erwerbs-) biografi schen Grundsatzentscheidungen wie Heirat, Wahl des Berufs oder Arbeitsplatzes; der überwiegende Teil der Arbeits-, Ausbildungs-, Siedlungsund Heiratswanderer war also jung. Der Wanderungsentschluss resultierte in derartigen sozialen Konstellationen aus persön lichen Entscheidungen oder Arrangements in Fami lienwirtschaften. Individuelle und familienwirtschaftliche Handlungsalternativen gab es allerdings vor allem dann nicht, wenn aufgrund von wirtschaftlichen, sozialen oder umweltbedingten Krisen existenzielle Not drohte oder herrschte. […] Die Bedeutung der Informationsvermittlung mithilfe verwandtschaftlich-bekanntschaftlicher Netzwerke kann nicht 1 Conditio humana: notwendige Bedingung, unerlässliche Voraussetzung des Menschseins 5 10 15 20 25 30 35 5 10 15 20 25 30 35 32015_1_1_2015_Kap2_138-203.indd 147 01.04.15 10:11 Nu r z u Pr üf zw ec ke n Ei ge tu m d es C .C . B uc hn er V er la gs | |
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