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195Rasche Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen? M1 Mahnung an die Flüchtlinge und Vertriebenen Der Minister für Flüchtlingsangelegenheiten des Landes Niedersachsen, Heinrich Albertz (SPD), in einer Rede vor dem Niedersächsischen Landtag am 4. August 1948: Eine Landesregierung im deutschen Westen und ein Landesminister für Flüchtlingsangelegenheiten haben im Augenblick nur eine konkrete, allerdings eine sehr bittere und sehr nüchterne Aufgabe: den Millionen Vertriebenen im westdeutschen Raum zu ihren primitivsten Lebensrechten zu verhelfen! Die Forderung auf Rückgabe der deutschen Ostgebiete kostet mich oder irgendeinen verantwortlichen Politiker im deutschen Raum im Augenblick gar nichts. Es kostet mich aber etwas, in Hannover, in Lüneburg, in Stade, in Braunschweig oder sonstwo dafür einzutreten, dass endlich alle Deutschen in unserem Lande vor dem Gesetz gleich sind (Sehr richtig! bei der SPD) und dass diese durch den Gesetzgeber festgestellte Gleichberechtigung aus einer papiernen Fiktion zu einer Wirklichkeit des täglichen Lebens wird. Was ich in dieser Richtung, meine sehr verehrten Damen und Herren, seit der Übernahme meines Amtes in unserem Lande festgestellt habe, ist ebenso erschreckend wie erschütternd. Man hält zwar Flüchtlingsversammlungen ab mit großen Transparenten „Gebt uns unsere Heimat wieder!“, aber unter diesen Plakaten verrecken die Menschen. Man wühlt in immer deutlicherer Form nationalistische Leidenschaften auf, aber das soziale Gewissen schweigt oder ist schon längst gestorben. Darum haben meine Freunde und ich eine sehr deutliche und nüchterne Meinung vom Flüchtlingsproblem im westdeutschen Raum. Wir wollen mit allen nur denkbaren Mitteln die Vertriebenen an die echte soziale und politische Verantwortung heranführen. Der Vertriebene soll seine Heimat niemals vergessen, aber sein Verstand hat hier wach zu sein, und seine tägliche harte und schwere Arbeit hat sich ausschließlich auf den Kampf um seine Existenz im westdeutschen Raum und um die Wiederherstellung der zerstörten sozialen Gerechtigkeit zu richten. Der Entwurf des Gesetzes über die Bildung eines Parlamentarischen Rates1, der uns das Grundgesetz einer neuen deutschen Ordnung schenken soll, ist der gegebene Anlass, das mit allem Ernst, aber auch mit aller Schärfe auszusprechen. Obwohl niemand von uns jemals den berechtigten Anspruch auf die Grenzen Deutschlands nach dem Stande von 1937 aufgeben wird, haben wir hier zu leben und zu arbeiten und auch politisch zu handeln, als ob kein einziger der Ostvertriebenen seine Heimat in absehbarer Zeit wiedersehen würde. Gebe Gott, dass dieses Als-Ob eine Illusion bleibt. Solange wir aber der nüchternen Wirklichkeit der augenblicklichen politischen Lage gegenüberstehen, werden wir jedenfalls mit allen Mitteln zu verhindern wissen, dass uns ausgerechnet der entwurzelte ostdeutsche Mensch für einen neuen Nationalismus reif geschossen wird, und zwar lediglich, um die eigene soziale Bequemlichkeit zu schützen. Denn gerade der Vertriebene soll wesentlicher Träger der neuen Ordnung sein, die eine Ordnung der deutschen Armut ist und die die Erfahrungen der Besitzlosigkeit der Ostvertriebenen in sich schließen muss – oder wir gehen alle miteinander zugrunde. Niedersächsischer Landtag, 1. WP., 42. Sitzung, 4. August 1948, Sp. 2210 1. Fassen Sie Albertz’ Hauptanliegen zusammen. 2. Arbeiten Sie heraus, welche Perspektive Albertz den Flüchtlingen und Vertriebenen in Bezug auf ihre „alte Heimat“ bietet. 3. Interpretieren Sie die im Text genannten Befürchtungen hinsichtlich eines „neuen Nationalismus“ (Zeile 47 f.) unter den Flüchtlingen und Vertriebenen. M2 Zur Lage der „Umsiedler“ in Deutschland Der Vorsitzende der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), Wilhelm Pieck, führt in einer Rede auf der 8. Tagung des Deutschen Volksrates am 22. Juli 1949 in Ost-Berlin zur Situation der „Umsiedler“ in Deutschland aus: Es sind wohl 11 Mio. Menschen, die infolge der Grenzziehung, die von den Besatzungsmächten auf den Konferenzen von Jalta und Potsdam an der Oder und Neiße zwischen Polen und Deutschland vorgenommen wurde, ihre Heimat verloren haben. Mit ihrer Umsiedlung, die auch von den westlichen Besatzungsmächten beschlossen wurde, wurde dem übrigen Deutschland die Verpfl ichtung auferlegt, den Umsiedlern zu helfen, in dem verkleinerten Deutschland eine neue Heimat und wirtschaftliche Existenz zu fi nden. Diese Verpfl ichtung ist auch von der Bevölkerung in der sowjetischen Besatzungszone ehrlich erfüllt worden. Im Westen Deutschlands aber wurde den Umsiedlern nicht geholfen. Es wurde ihnen weder Land gegeben noch eine Existenz verschafft. Sie werden als Ortsfremde behandelt, und jede Gleichberechtigung wird ihnen versagt. Um nun der Empörung der Umsiedler über diese Behandlung zu steuern, sucht man sie mit der Behauptung zu betrügen, dass die OderNeiße-Grenze wieder aufgehoben wird und sie in ihre Hei 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 1 Parlamentarischer Rat: ein von den Ministerpräsidenten der westdeutschen Länder auf Anordnung der Westalliierten eingesetztes politisches Organ, dessen Hauptaufgabe es war, das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland auszuarbeiten 5 10 15 32015_1_1_2015_Kap2_138-203.indd 195 01.04.15 10:12 Nu r z u Pr üf zw e ke n Ei ge nt um d es C .C . B uc hn er V er la gs | |
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