Volltext anzeigen | |
197Rasche Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen? M4 „Das Eingliederungswunder – Realität und Mythos” Der Historiker Mathias Beer schreibt 2005 zu Realität und Mythos des angeblichen „Eingliederungswunders“: Vor dem Hintergrund der katastrophalen Bedingungen des Experiments und seines so schnell nicht zu erwartenden Gelingens meldeten sich früh Stimmen zu Wort, die analog zum Wirtschaftswunder von einem Integrationswunder sprachen. Das Bild vom Wunder entwickelte sich bald zu einem Topos1. Die Flüchtlinge und Vertriebenen „leben politisch, berufl ich und materiell nicht anders als die Deutschen, die hier seit Generationen ansässig sind. Dass das gelingen konnte, ist das eigentliche Wunder unserer Nachkriegsgeschichte“, bilanzierte 1979 der zuständige Staatssekretär im Bundesministerium des Inneren. Wie jeder Topos weist das Bild vom Integrationswunder zwei Seiten auf, eine reale und eine, die sich eine Gesellschaft im Laufe der Zeit von dieser Realität zurechtlegt. Die sich vollziehende wirtschaftliche, soziale und politische Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen gab die sozialpolitische Antwort auf die zunächst offene Flüchtlingsfrage. Aus Trümmern wurden in der Tat solide Fundamente. Nicht der befürchtete politische und wirtschaftliche Unruheherd war das Ergebnis, sondern ein im westlichen Bündnis verankertes demokratisches, wirtschaftlich prosperierendes Staatswesen, selbst das Resultat der letztendlich gelungenen Zusammenführung und Verfl echtung von Altund Neubürgern. Die erheblichen sozialen Spannungen, die dem neuen Staat in die Wiege gelegt worden waren, konnten bald abgebaut werden. […] Zweifellos, die Eingliederung von Millionen von Flüchtlingen und Vertriebenen war eine beispiellose Leistung, die nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Darüber darf aber nicht vergessen werden, dass das Bild vom Integrationswunder den Eingliederungsprozess in unzulässiger Weise glorifi ziert. Mit Wohnungen und Arbeitsplätzen waren die Flüchtlinge und Vertriebenen relativ rasch versorgt, und sie hatten auch gleichberechtigt an den Segnungen des Wirtschaftswunders teil. Aber aufgrund des vom Anfang der 1970er-Jahre verfügbaren empirischen Materials ist nachvollziehbar, dass auch zu diesem Zeitpunkt noch keine Chancengleichheit zwischen Altund Neubürgern bestand. Sieht man sich die individuell und alterspezifi sch bestimmte psychologische Seite des Eingliederungsvorgangs an, so zeigt die Integration bis in die Gegenwart ihre Folgen […]. Es ist auch bei der Eingliederung der Flüchtlinge und Vertriebenen von einem Prozess auszugehen, der drei und mehr Generationen in Anspruch nimmt und der von Beharren und Einfügen gekennzeichnet ist. Zum Mythos des Integrationswunders gehört auch, dass sich der Eingliederungsprozess von fast einem Viertel der bundesdeutschen Bevölkerung quasi selbstläufi g und weitgehend geräuschlos, auf wundersame Weise vollzogen habe. Das positive Ergebnis des Experiments stand weder von Anfang an fest, auch wenn es rückblickend so erscheinen mag, noch verlief es spannungsfrei. Im Gegenteil, es war ein Vorgang, der in einem von Auseinandersetzungen geprägten langen Zeitraum beiden Seiten große Anstrengungen und Anpassungsleistungen abverlangte. Das Zusammenwachsen vollzog sich unter den Bedingungen eines in hohem Maße als „Konfl iktgemeinschaft“ zu charakterisierenden Gegeneinander, das sich erst allmählich zu einem Nebeneinander entwickelte, um dann zum Zusammenund schließlich zum Miteinanderleben von Altund Neubürgern zu führen. Mathias Beer, Flüchtlinge und Vertriebene in den Westzonen und der Bundesrepublik Deutschland, in: Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.), Flucht, Vertreibung, Integration, Bielefeld 2005, S. 108 123, hier S. 122 f. 1. Geben Sie in eigenen Worten wieder, was Beer unter Realität und Mythos des „Eingliederungswunders“ versteht. 2. Setzen Sie Beers Ausführungen mit M1 und M3 in Beziehung. 3. Erläutern Sie, welche Maßnahmen und Entwicklungen das Zustandekommen des „Integrationserfolges“ in Westdeutschland ermöglichten. 4. Erörtern Sie, inwiefern von einem „Eingliederungswunder“ gesprochen werden kann. 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 1 Topos: feste Wendung, immer wieder gebrauchte Formulierung 32015_1_1_2015_Kap2_138-203.indd 197 01.04.15 10:12 Nu r z u Pr üf zw ec ke n Ei ge nt um d es C .C . B uc hn er V rla gs | |
![]() « | ![]() » |
» Zur Flash-Version des Livebooks |