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201Flucht und Vertreibung als Erinnerungsort M1 „Charta der deutschen Heimatvertriebenen“ Am 5. August 1950 unterzeichnen die Sprecher der Vertriebenenverbände bzw. ostdeutschen Landsmannschaften die sogenannte „Charta der deutschen Heimatvertriebenen“. Am folgenden Tag wird sie bei einer Massenkundgebung in Stuttgart-Bad Cannstatt verkündet. Darin heißt es: 1. Wir Heimatvertriebenen verzichten auf Rache und Vergeltung. Dieser Entschluss ist uns ernst und heilig im Gedenken an das unendliche Leid, welches im Besonderen das letzte Jahrzehnt über die Menschheit gebracht hat. 2. Wir werden jedes Beginnen mit allen Kräften unterstützen, das auf die Schaffung eines geeinten Europa gerichtet ist, in dem die Völker ohne Furcht und Zwang leben können. 3. Wir werden durch harte, unermüdliche Arbeit teilnehmen am Wiederaufbau Deutschlands und Europas. Wir haben unsere Heimat verloren. Heimatlose sind Fremdlinge auf dieser Erde. Gott hat die Menschen in ihre Heimat hineingestellt. Den Menschen mit Zwang von seiner Heimat trennen, bedeutet, ihn im Geiste töten. Wir haben dieses Schicksal erlitten und erlebt. Daher fühlen wir uns berufen zu verlangen, dass das Recht auf die Heimat als eines der von Gott geschenkten Grundrechte der Menschheit anerkannt und verwirklicht wird. […] Die Völker der Welt sollen ihre Mitverantwortung am Schicksal der Heimatvertriebenen als der vom Leid dieser Zeit am schwersten Betroffenen empfi nden. Die Völker sollen handeln, wie es ihren christlichen Pfl ichten und ihrem Gewissen entspricht. Die Völker müssen erkennen, dass das Schicksal der deutschen Heimatvertriebenen, wie aller Flüchtlinge, ein Weltproblem ist, dessen Lösung höchste sittliche Verantwortung und Verpfl ichtung zu gewaltiger Leistung fordert. Wir rufen die Völker und Menschen auf, die guten Willens sind, Hand anzulegen ans Werk, damit aus Schuld, Unglück, Leid, Armut und Elend für uns alle der Weg in eine bessere Zukunft gefunden wird. www.hdg.de/lemo/html/dokumente/JahreDesAufbausInOstUnd West_erklaerungCharta DerHeimatvertriebenen/index.html (Zugriff: 4. März 2014) 1. Gliedern Sie die „Charta“ nach Erklärungen und Forderungen und geben Sie deren zentrale Inhalte wieder. 2. Ordnen Sie die Quelle in den historischen Kontext ein, indem Sie insbesondere auf die Vorgeschichte von Flucht und Vertreibung eingehen. 3. Interpretieren Sie den Verzicht auf „Rache und Vergeltung“(Zeile 1 f.). M2 „Opfergeschichten“ Der Historiker Philipp Ther schreibt zu den Opfern „ethnischer Säuberungen“: Opfergeschichten haben in jüngster Zeit eine globale Konjunktur. Dies ist begrüßenswert, denn es vervollständigt die Kenntnisse über Gruppen, deren Schicksal der öffentlichen Aufmerksamkeit lange Zeit entgangen ist. Doch mit der Anerkennung vergangenen Leids verbinden sich politische Interessen. Außerdem impliziert der Begriff des Opfers eine Dichotomie1 mit Tätern. Vor allem bei den deutschen Vertriebenen, aber auch in vielen anderen Fällen funktioniert diese Gegenüberstellung nicht. Man muss grundsätzlich zur Kenntnis nehmen, dass die Opfer ethnischer Säuberungen oft Partei in einem länger anhaltenden Konfl ikt genommen oder sogar selbst Gewalt angewandt hatten. Diese Feststellung beinhaltet nicht, dass man keine Empathie empfi nden sollte. Jede Reise auf dem Flüchtlingstreck, jedes erfrorene Kind und jeder erschossene Familienangehörige, die Aufnahme im Flüchtlingslager, der mühsame Beginn eines neuen Lebens fern der alten Heimat bedeutete großes Leid. Doch diese vielfältigen Traumata erschweren häufi g den Blick auf Betroffene jenseits der eigenen Gruppe. […] Außerdem liegt in der Konzentration auf die Opfer die Gefahr, dass 5 10 15 20 25 i Verkündung der „Charta“. Foto von 1950. Am 6. August 1950 wird die „Charta der deutschen Heimatvertriebenen“ auf einer Kundgebung von rund 70 000 Heimatvertriebenen vor dem Neuen Schloss in Stuttgart verkündet. 5 10 15 20 1 Dichotomie: Zweiteilung 32015_1_1_2015_Kap2_138-203.indd 201 01.04.15 10:12 Nu r z u Pr üf zw ec k n Ei ge nt um d es C .C . B uc hn er V er la gs | |
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