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203Flucht und Vertreibung als Erinnerungsort haben. In jedem Fall war für die betroffenen Menschen – ungeachtet ihrer Nationalität – Vertreibung mit Leid vielfältiger Art verbunden. Häufi g bedeutete sie auch den Tod. Vertreibungen fanden in Europa im Wesentlichen in drei Wellen statt, von den Balkankriegen bis zum griechisch-türkischen „Bevölkerungsaustausch“ 1923/24 ging die erste Welle, die zweite setzte am Vorabend des Zweiten Weltkrieges ein und erstreckte sich bis Ende der 1940er-Jahre, die dritte hat in unserer Gegenwart in den 1990er-Jahren stattgefunden. Die zweite umfasste bei Weitem die meisten Menschen, Millionen kamen in dieser Zeit bei den Vertreibungen um. Aufs Ganze gesehen spielten der Nationalismus und das Ziel, ethnisch „reine“ Nationalstaaten zu schaffen, eine zentrale Rolle als Triebkräfte der Vertreibungen, doch waren auch machtpolitische und imperialistische Kalküle bedeutsam. Hierbei waren in der Regel Kriege und Kriegsfolgen die Voraussetzung von Vertreibungen, wenn sie nicht sogar den wesentlichen Inhalt des Krieges mit ausmachten. […] Der europäische Zusammenhang der Vertreibung der Deutschen ist damit offensichtlich. Keine Frage: Bei den Deutschen handelte es sich um die größte der vertriebenen Gruppen; bei ihrer Vertreibung kam eine beträchtliche Zahl von Menschen ums Leben, [Norman M.] Naimark geht von mehr als zwei Millionen aus. Und doch ist die Vertreibung der Deutschen nur ein Teil der europäischen Tragödie. Bernd Faulenbach, Vertreibungen – ein europäisches Thema, in: Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.), Flucht, Vertreibung, Integration, Bielefeld 2005, S. 188 195, hier S. 189 f. 1. Beschreiben Sie, was Flucht und Vertreibung nach Faulenbach zu einem europäischen Thema macht. 2. Ordnen Sie die NS-Politik in Osteuropa und die Flucht und Vertreibung der Deutschen in den skizzierten europäischen Zusammenhang ein. M5 „Erst die deutschen Hausaufgaben machen“ Die Historiker Eva und Hans Henning Hahn schreiben 2003 zu einer Europäisierung der Erinnerung an die Vertreibung der Deutschen aus Osteuropa: Wichtigster Stein des Anstoßes […] ist […] die Verschleierung historischer und politischer Zusammenhänge durch das Schlagwort „ethnische Säuberungen“. Es suggeriert, die Sehnsucht nach ethnischer Homogenität sei der Hauptgrund dafür gewesen, dass die Gegner Hitlerdeutschlands während des Zweiten Weltkrieges auf die Idee gekommen seien, deutsche Minderheiten aus Osteuropa auszusiedeln. Die Chimäre1 des monoethnischen Staates sei die Ursache dafür gewesen, warum sie die furchtbaren Umsiedlungen sanktioniert hätten. […] Die Vertreibung, 1945 durchgeführt und in Potsdam sanktioniert, war die Frucht einer Ratlosigkeit angesichts des Krieges und seiner Vorgeschichte. Dies mit dem Schlagwort ethnische Säuberung zu europäisieren, ist keine adäquate historische Interpretation. Es verschleiert, verdeckt, vernebelt und führt letztlich dazu, den Nationalsozialismus und seine Praxis „ebenbürtig“ zu machen. Für die Vertriebenenverbände und ihre seit über 50 Jahren als ready-made angebotene Argumentationsfi gur erweist sich die Vokabel „ethnische Säuberung“ heute als höchst dienlich. Wäre es nicht an der Zeit, zunächst die deutschen Hausaufgaben zu erledigen, bevor man daran geht, das europäische Gedächtnis an die Vertreibungen zu gestalten? […] Der notwendigen und erkenntnisfördernden Polyphonie2 historischer Erinnerungen, Perspektiven und Interpretationen werden Schlagworte übergestülpt. Davor kann nur gewarnt werden. Eine angestrebte gemeinsame gesamteuropäische Gedächtniskultur darf nicht nationale Erinnerungsprobleme europäisch verwässern und entsorgen. Eine neue europäische Erinnerungskultur darf nicht darin bestehen, sich auf eine gemeinsame Interpretation im Sinne des kleinsten gemeinsamen Nenners zu einigen. Eva und Hans Henning Hahn, Erst die deutschen Hausaufgaben machen, in: Frankfurter Rundschau vom 25. Juli 2003 1. Geben Sie wieder, welche Gefahren die Autoren in einer Europäisierung des Erinnerns an die Vertreibung der Deutschen aus Osteuropa sehen. 2. Erläutern Sie die Bedeutung „ethnischer Säuberungen“ in der europäischen Geschichte. 3. Setzen Sie M1 (Seite 201) und M5 in Beziehung, indem Sie erläutern, in welcher Form die im Text angesprochene „Argumentationsfi gur“ der Vertriebenenverbände in der „Charta“ auftaucht. 4. Erörtern Sie, ausgehend von M4 (Seite 202 f.) und M5, die Chancen und Gefahren eines europäischen Gedenkens. 1 Chimäre: Trugbild, Hirngespinst 2 Polyphonie: Mehrstimmigkeit 10 15 20 25 30 5 10 15 20 25 30 32015_1_1_2015_Kap2_138-203.indd 203 01.04.15 10:12 Nu r z u Pr üf zw ec ke Ei ge nt um d es C .C . B uc hn er V er la gs | |
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