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445Der 12. Oktober 1492 M1 Gedenktage Der Historiker Klaus Bergmann schreibt über die Funktionen von Gedenktagen: Die Erinnerung an bestimmte, datierbare histo rische Ereignisse und Personen, wie sie in Gedenktagen zum Ausdruck kommt, kann von sehr unterschiedlichen „Trägern“ ausgehen. Sie kann als kollektive Erinnerung von staatlicher Seite und herrschenden Schichten erwünscht, durch Gesetz festgeschrieben und institutionalisiert wie ritualisiert sein. Oder sie kann als kollektive Erinnerung von Gruppen, Schichten, Klassen, Gemeinschaften oder Vereinen auftreten, die der Bildung einer auch historisch unterfütterten gemeinsamen Identität dient. Werden Gedenktage vom Staat veranstaltet, haben sie in der Vergangenheit und Gegenwart in erster Linie die politische Funktion der Bestätigung und Bewahrung bestehender Verhältnisse. Sie dienen der Herstellung und Demonstration von brauch baren Traditionen, sollen Identifi kation und Loyalität gegenüber dem politischen System und ein möglichst einheitliches Geschichtsbewusstsein herstellen. Die GedenkGeschichten betonen nach dem immer gleichen Grundmuster jenen Zusammenhang von Vergangenheitsdeutung, Gegenwartsverständnis und Zukunftserwartung, der Geschichtsbewusstsein ausmacht: An diesen Tagen wird in der Regel die Geschichte von Ursprung und Abstammung, von Wende und Neuanfang, von Entwicklung und Kontinuität, von daran beteiligten Persönlichkeiten erzählt, um mit der rhetorischen Figur von „Erbe und Auftrag“ eine Zukunftsperspektive anzudienen. Gedenktage und Gedenkjahre, die unterhalb der staatlichen Ebene veranstaltet werden, haben je nach Träger und Veranstalter ebenfalls politische Funktionen – zuweilen bestandskritische, auf mehr oder weniger radikale Veränderungen bedachte (z. B. Arbeiterbewegung im Kaiserreich oder gesellschaftliche/nationale/ethnische Minderheiten), zuweilen integrationsfordernde (Gedenktage von Städten, Dörfern, Vereinen, Gemeinschaften). Klaus Bergmann, Gedenktage, Gedenkjahre und historische Vernunft, in: Sabine Horn und Michael Sauer (Hrsg.), Geschichte und Öffentlichkeit. Orte – Medien – Institutionen, Göttingen 2009, S. 24 31, hier S. 26 28 1. Fassen Sie die zentralen Aussagen von Klaus Bergmann über Gedenktage zusammen. 2. Arbeiten Sie heraus, was Gedenkvon Erinnerungstagen unterscheidet. Berücksichtigen Sie dabei M2. 3. Erörtern Sie, inwiefern Gedenktage in Deutschland der von Bergmann genannten Funktion der „Bestätigung und Bewahrung bestehender Verhältnisse“ dienen. M2 Erinnerungstage Die Historiker Etienne François und Uwe Puschner unterscheiden Erinnerungstage von Gedenktagen: Warum aber sprechen wir von Erinnerungstagen und nicht, wie vielleicht erwartet, von Gedenktagen? [...] [Wir möchten] mit dem Rückgriff auf den Begriff „Erinnerungstage“ auf die Vielschichtigkeit und Differenziertheit der Erinnerungskulturen hinweisen: Die kollektiven Erinnerungen erfassen viel mehr als die Bestimmungen und Beschlüsse, die Programme und die Absichten der verschiedenen „Gedächtnisentrepreneurs“1. Auch wenn es im Einzelnen nicht immer unproblematisch durchzuführen ist, geht es um die kollektiven Erinnerungen in ihrer Ganzheit. [...] Bei allen Unterschieden ähneln sich [...] Erinnerungstage zumindest in einem Punkt: Allen ist gemeinsam, dass in ihrem Mittelpunkt nicht so sehr das faktische Ereignis steht, das mit einem festen Datum verbunden ist, sondern vielmehr das verwandelte Ereignis, das am Ende einer doppelten Metamor phose2 als Erinnerungstag entstanden ist. Die erste Metamorphose machte aus dem geschicht lichen ein „historisches“, die zweite Metamorphose aus dem „historischen“ ein „erinnerungswürdiges“ Ereignis, wobei zugleich meistens beschlossen wurde, seiner an einem bestimmten Tag und in regelmäßigen Abständen zu gedenken. [...] Entscheidend ist dabei die regelmäßige Wieder holung bzw. Vergegenwärtigung des vergangenen Ereignisses. Auch wenn diese sich wiederholende Vergegenwärtigung nicht formalisiert ist bzw. sein muss, ähnelt sie, weil sie immer kollektiv geschieht, einem Kult. „Als bevorzugter Augenblick der Beschwörung oder sogar der Reaktualisierung der Fakten, Handlungen und Personen, die eine Gemeinschaft gründet“, beobachtete Emile Durkheim, „hat der Kult den Charakter eines Gedenkens par excellence.“3 Dies tritt besonders deutlich im Mittelalter und während der Frühen Neuzeit zutage: Liturgisch geprägt und eingebunden in den sakralen Kalender, verbindet die kollektive Erinnerung als „Feier der Geschichte“ das reaktualisierte Ereignis mit dem Heiligen und eint die Lebenden mit den Toten, das Jenseits mit dem Diesseits, die Zeit mit der Ewigkeit. Im Verlauf der Moderne traten diese Elemente in den Hintergrund. Dennoch bleibt auch in säkularen Gesellschaften das sakrale Modell des Kalenders und der Liturgie weiterhin unumgänglich: Das Symbolische tritt an die Stelle des Religiösen und wie Peter 1 Gedächtnisentrepreneur: öffentliche oder private Institutionen, die verschiedene Formen von Erinnerung aktivieren 2 Metamorphose: Umgestaltung, Umwandlung 3 Zitat aus einer Veröffentlichung von Emile Durkheim von 1960 5 10 15 20 25 30 5 10 15 20 25 30 35 40 32015_1_1_2015_Kap4_442-469.indd 445 01.04.15 11:04 N r z u Pr üf zw ec ke n Ei ge nt um d es C .C . B uc hn er V er la gs | |
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